Nelly_CML hat geschrieben:
Schon verstanden, Schere im Kopf...............
Dass meine Info in eine Diskussion darüber mündet, wer denn nun der Erfinder von Imatinib ist, verblüfft mich schon. War das Thema so uninteressant?
Hallo Nelly,
nein, das Thema ist hochinteressant. Der Grund, warum ich mich schwertue, auf das Thema zu antworten, ist, weil es keine einfachen Antworten in diesem Thema gibt, auch wenn es so reizvoll zu sei scheint, in "Gut und Gierig" zu polarisieren.
Einerseits sehe ich natürlich das Problem, dass die "westlichen" Medikamentenpreise für Entwicklungsländer unerschwinglich sind. Indien löst dies, indem es Patente schlicht ignoriert und Drittfirmen wie Natco erlaubt, Kopien patentierter Medikamente bereitzustellen. Andererseits stoppen diese ja nicht an Landesgrenzen, sondern wir wissen von CML-Patientengruppen im Libanon, in Argentinien, Venezuela und Serbien, dass die dortigen Regierungen die indischen Medikamente in großen Mengen - auch unter Übergehung der Patente - aus Indien importieren und an CML-Patienten verteilen. Die Patientengruppen dort sind hochnervös, weil die Qualitätssicherung der Herstellung und Distributionswege nicht gegeben ist und z.B. in Südamerika Patienten unter massiven, unter Glivec unbekannten Nebenwirkungen litten, was dafür spricht, dass die Zusammensetzung der Kopien nicht mit dem Original übereinstimmt. Novartis verteilt in Indien an 30.000 CML-Patienten über das GIPAP-Programm kostenlos Imatinib. Das GIPAP-Programm läuft in sehr vielen Entwicklungsländern, und weltweit bekommen rund 80.000 Patienten Glivec kostenlos. Die unabhängige "Max Foundation" (geführt von einer CML-Patientenvertreterin, die ihren Sohn Max an CML verlor) sorgt dafür, dass nicht Novartis entscheidet, wer die Medikamentspende bekommt, sondern eine unabhängige Stiftung, die sicherstellt, dass die Patienten die Medikamente nicht offiziell bekommen können, die Diagnostik eine CML bestätigt hat und die Patienten regelmäßig zur Verlaufskontrolle gehen.
Auch bei der wirtschaftichen Fragestellung gibt es keine einfachen Antworten. Mit Glivec verdient Novartis zweifellos unglaublich viel Geld, und Novartis steht insgesamt finanziell sehr gut da, weil viele von den Neuentwicklungen der letzten Jahre (in Krebs und anderen Bereichen) funktioniert haben, aber keine der größten Umsatzbringer "ausliefen" - und bei Zulassung von Glivec im Jahr 2001 niemand damit rechnete, dass das Medikament langfristig medizinisch funktioniert, denn jeder rechnete damit, dass nach 1-2 Jahren der Therapieabbruch nach Progression kommt. Bei vielen anderen Pharmaherstellern findet jedoch im Moment eine Entlassungswelle nach der anderen statt, weil Patente existierender Medikamente auslaufen und keine neuen Produkte da sind, die die patentbedingten Umsatzausfälle annähernd kompensieren. Wenn ich alleine den "Mikrokosmos CML" ansehe, ist die Frage, ob sich Medikamente wie Ponatinib, Bosutinib oder andere jemals rechnen werden. Was ist, wenn Indien eine Kopie von Ponatinib herstellen würde? Dann könnten wir damit rechnen, dass Ariad das Medikament im Westen einstampfen würde, und für Patienten mit T315I wäre weiterhin kein Medikament verfügbar. Und alleine im Bereich der Onkologie gibt es nur wenige "Kassenschlager" wie Glivec, die einen so hohen dauerhaften Umsatz machen, insofern ist Glivec eher eine Ausnahme als die Regel.
Was ist nun also "richtig", was "falsch"? Ich weiss es ehrlichgesagt nicht, wenn man die Gesamtstory von Produktpipeline über unlizensierte Kopien und Zugangsprogrammen wie GIPAP bis hin zu finanziellen Anreizen für Neuentwicklungen betrachtet.
Als CML-Patient weiss ich aber, dass ich die CML in Zukunft nur los werden werde, wenn weiterhin neue Medikamente für die CML entwickelt werden, die auf Beseitigung der letzten CML-Stammzelle zielen, denn die heutigen Therapien erfüllen diesen Bedarf noch nicht. Entwicklung bis hin zum verfügbaren Produkt passiert nur, wenn die Hersteller eine Aussicht auf Profit haben, und das Patentende von Glivec in 2015/2016 wird den CML-Kuchen massiv schrumpfen lassen und die Geschäftsmodelle aller konkurrierenden Produkte in Frage stellen. Insofern bin ich nicht nur über Entwicklungsländer besorgt, sondern auch für uns hier.
Schön wäre natürlich, wenn es "irgendwie" fairer wäre - kostenlose Medikamente für die Armen, moderate Preise im Westen, moderate Gewinnspannen, mehr innovative Medikamente, am Gemeinnutz orientierte Unternehmen, keine Belastung für den Steuerzahler / Versicherten - nur leider hat noch keiner eine diese Irgendwie-Lösung gefunden, die genug Anreiz für alle in diesem komplexen System schafft - sich beschweren oder Entwicklungen einfach sein zu lassen ist leichter. Es gibt nur Freibier, wenn am Ende trotzdem jemand die Brauerei bezahlt.
Viele Grüße
Jan