von jan » 30.05.2010, 22:33
Hallo zusammen,
ich habe den SPIEGEL-Artikel ebenfalls gelesen und war recht erschreckt. Er ist schlecht recherchiert, populistisch und sehr einseitig - eigentlich entspricht er nicht dem Qualitätsstandard des SPIEGEL und wäre in anderen Boulevardmagazinen sicher besser aufgehoben gewesen.
Es ist sicherlich gerechtfertigt, über die Preisgebung neuer Krebsmedikationen zu diskutieren und diese kritisch zu hinterfragen. Auch ist es richtig, über "Innovationsgrad" und "Wert" neuer Therapien zu diskutieren und diesen auch in zweifelhaften Fällen abzulehnen. Während Deutschland davon bisher weitgehend verschont blieb (was sich unter dem aktuellen Gesundheitsminister gerade ändert - vermutlich wurde aus dieser Richtung der Spiegel-Artikel flankiert, um die aktuelle Kostenbremse politisch zu rechtfertigen), sind z.B. in Ländern wie England die Auswirkungen der Diskussion schon sehr sichtbar: Wer in Zentralengland CML-Patient ist und Imatinib entweder nicht verträgt oder dagegen resistent wird, hat zwei Optionen: entweder den Erstwohnsitz nach Schottland zu legen, oder sich auf eine Restlebenserwartung von 2-3 Jahren einzustellen. Der Grund ist, dass dort das "Nationale Institut für Klinische Exzellenz" (NICE) alle drei CML-Zweitlinientherapien Dasatinib, Nilotonib und Hochdosis-Imatinib als "nicht kosteneffizient" eingestuft hat, sprich die Kosten von 37.000 Pfund pro "lebensqualitätangepaßten Lebensjahrs" überschreiten. Alle drei Therapien werden daher dort, obwohl von der Gesundheitsbehörde als sicher und wirksam zugelassen, von den Kassen nicht erstattet. Die CML-Patientengruppen in England kämpfen wacker gegen die Entscheidungen, bisher aber ohne Erfolg.
Eigentlich nicht adäquat für den SPIEGEL war die einseitige Betrachtungsweise - denn es wird der Eindruck erweckt, als ob alle neuen Krebsmedikamente so überteuert wie wirkungslos wären, und die wohl vernünftigste Verhaltensweise eines Krebspatienten wäre, auf diese "von skrupellosen Pharmafirmen in den Markt gedrückten Wundermittel" zu verzichten und besser nebenwirkungsfrei auf den Tod zu warten. Ich hoffe, dass Patienten sich vom SPIEGEL sich nicht aus falscher Verantwortung der Gesellschaft gegenüber ermutigt fühlen, ihrem Arzt zu misstrauen und auf eine von ihm als angemessen empfohlene Therapie zu verzichten. Auch hoffe ich nicht, dass der kürzlich in einer CML-bezogenen Untersuchung festgestellte Trend sich noch verstärkt, dass die Imatinib-Verordnung sich statistisch mit zunehmendem Alter verringert - sprich manche Onkologen offensichtlich glauben, ein 70jähriger CML-Patient brauche keine teure Therapie mehr, die ihn weitere 15 statt nur 2 Jahre am Leben halten könnte.
Der SPIEGEL hat die Chance verpaßt, auf alle Seiten der Medaille einzugehen, statt ein einseitiges "Einfach Obszön" ins Volk zu rufen: So beispielsweise das "Risiko-Teilungs"-Preisschema aus England, in nach drei Monaten Therapie eines neuen Medikaments entschieden wird: Wirkt es, zahlt das Gesundheitssystem -- spricht der Patient nicht an, übernimmt das Pharmaunternehmen die Medikamentkosten seit Therapiestart. Oder auch die bedingte Zulassung der Zulassungsbehörde, in der nach Zulassung eines Medikaments die Pflicht zur Fortführung großer klinischer Studien besteht, und nach einer Zeitfrist geprüft wird, ob die erhofften Wirkungen auch mit größeren Patientenzahlen und über längere Frist bestätigt werden -- und wenn nicht, wird die Medikamentenzulassung zurückgezogen. Auch wurde wohl vergessen, dass der Durchschnitt ("medianes progressionsfreies Überleben") zwar ein wichtiger Indikator sein kann - interessant ist aber die Varianz und ob vielleicht eine erst nach Zulassung klarer abgrenzbare Untergruppe der Patienten auf die Therapie anspricht.
Ob die Autoren wohl zu ihrer Meinung stehen würden, wenn sie selbst von Krebs betroffen wären und man ihnen eine Therapie verweigern würde, weil sie ihnen das Leben doch im statistischen Durchschnitt "nur um drei Monate" verlängert, oder sie eben verstehen sollten, dass ein zusätzliches Lebensjahr die Gesellschaft eben keine 40.000 EUR kosten dürfe? Ich habe meine Zweifel - das ist typische Kritik eines gesunden Steuerzahlers gegenüber dem doch so teuren Kranken.
Insgesamt wirklich kein Glanzstück journalistischer Qualität im SPIEGEL. Schade, dass auch mal wieder viel über Patienten geschrieben, aber bei Krebspatientengruppen offensichtlich nicht nachgefragt wurde, um ein differenzierteres Bild zu erhalten.
Grüße
Jan
Hallo zusammen,
ich habe den SPIEGEL-Artikel ebenfalls gelesen und war recht erschreckt. Er ist schlecht recherchiert, populistisch und sehr einseitig - eigentlich entspricht er nicht dem Qualitätsstandard des SPIEGEL und wäre in anderen Boulevardmagazinen sicher besser aufgehoben gewesen.
Es ist sicherlich gerechtfertigt, über die Preisgebung neuer Krebsmedikationen zu diskutieren und diese kritisch zu hinterfragen. Auch ist es richtig, über "Innovationsgrad" und "Wert" neuer Therapien zu diskutieren und diesen auch in zweifelhaften Fällen abzulehnen. Während Deutschland davon bisher weitgehend verschont blieb (was sich unter dem aktuellen Gesundheitsminister gerade ändert - vermutlich wurde aus dieser Richtung der Spiegel-Artikel flankiert, um die aktuelle Kostenbremse politisch zu rechtfertigen), sind z.B. in Ländern wie England die Auswirkungen der Diskussion schon sehr sichtbar: Wer in Zentralengland CML-Patient ist und Imatinib entweder nicht verträgt oder dagegen resistent wird, hat zwei Optionen: entweder den Erstwohnsitz nach Schottland zu legen, oder sich auf eine Restlebenserwartung von 2-3 Jahren einzustellen. Der Grund ist, dass dort das "Nationale Institut für Klinische Exzellenz" (NICE) alle drei CML-Zweitlinientherapien Dasatinib, Nilotonib und Hochdosis-Imatinib als "nicht kosteneffizient" eingestuft hat, sprich die Kosten von 37.000 Pfund pro "lebensqualitätangepaßten Lebensjahrs" überschreiten. Alle drei Therapien werden daher dort, obwohl von der Gesundheitsbehörde als sicher und wirksam zugelassen, von den Kassen nicht erstattet. Die CML-Patientengruppen in England kämpfen wacker gegen die Entscheidungen, bisher aber ohne Erfolg.
Eigentlich nicht adäquat für den SPIEGEL war die einseitige Betrachtungsweise - denn es wird der Eindruck erweckt, als ob alle neuen Krebsmedikamente so überteuert wie wirkungslos wären, und die wohl vernünftigste Verhaltensweise eines Krebspatienten wäre, auf diese "von skrupellosen Pharmafirmen in den Markt gedrückten Wundermittel" zu verzichten und besser nebenwirkungsfrei auf den Tod zu warten. Ich hoffe, dass Patienten sich vom SPIEGEL sich nicht aus falscher Verantwortung der Gesellschaft gegenüber ermutigt fühlen, ihrem Arzt zu misstrauen und auf eine von ihm als angemessen empfohlene Therapie zu verzichten. Auch hoffe ich nicht, dass der kürzlich in einer CML-bezogenen Untersuchung festgestellte Trend sich noch verstärkt, dass die Imatinib-Verordnung sich statistisch mit zunehmendem Alter verringert - sprich manche Onkologen offensichtlich glauben, ein 70jähriger CML-Patient brauche keine teure Therapie mehr, die ihn weitere 15 statt nur 2 Jahre am Leben halten könnte.
Der SPIEGEL hat die Chance verpaßt, auf alle Seiten der Medaille einzugehen, statt ein einseitiges "Einfach Obszön" ins Volk zu rufen: So beispielsweise das "Risiko-Teilungs"-Preisschema aus England, in nach drei Monaten Therapie eines neuen Medikaments entschieden wird: Wirkt es, zahlt das Gesundheitssystem -- spricht der Patient nicht an, übernimmt das Pharmaunternehmen die Medikamentkosten seit Therapiestart. Oder auch die bedingte Zulassung der Zulassungsbehörde, in der nach Zulassung eines Medikaments die Pflicht zur Fortführung großer klinischer Studien besteht, und nach einer Zeitfrist geprüft wird, ob die erhofften Wirkungen auch mit größeren Patientenzahlen und über längere Frist bestätigt werden -- und wenn nicht, wird die Medikamentenzulassung zurückgezogen. Auch wurde wohl vergessen, dass der Durchschnitt ("medianes progressionsfreies Überleben") zwar ein wichtiger Indikator sein kann - interessant ist aber die Varianz und ob vielleicht eine erst nach Zulassung klarer abgrenzbare Untergruppe der Patienten auf die Therapie anspricht.
Ob die Autoren wohl zu ihrer Meinung stehen würden, wenn sie selbst von Krebs betroffen wären und man ihnen eine Therapie verweigern würde, weil sie ihnen das Leben doch im statistischen Durchschnitt "nur um drei Monate" verlängert, oder sie eben verstehen sollten, dass ein zusätzliches Lebensjahr die Gesellschaft eben keine 40.000 EUR kosten dürfe? Ich habe meine Zweifel - das ist typische Kritik eines gesunden Steuerzahlers gegenüber dem doch so teuren Kranken.
Insgesamt wirklich kein Glanzstück journalistischer Qualität im SPIEGEL. Schade, dass auch mal wieder viel über Patienten geschrieben, aber bei Krebspatientengruppen offensichtlich nicht nachgefragt wurde, um ein differenzierteres Bild zu erhalten.
Grüße
Jan