Off-Label-Use außerhalb der Zulassung: "Flugschein" als Lösungsansatz?

Die DLH hat in Kooperation mit der Deutschen Krebsgesellschaft anlässlich des Deutschen Krebskongresses Ende März in Berlin eine "Politische Expertenrunde" zum Thema "Off-Label-Use" durchgeführt. Ziel der Diskussionsrunde war es, den aktuellen Stand beim Off-Label-Use zunächst zusammenzutragen und anschließend lösungsorientiert zu diskutieren. Grundsätzlich muss abgegrenzt werden zwischen dem Einsatz eines Fertigarzneimittels außerhalb des Anwendungsgebietes, für das das Arzneimittel zugelassen ist (off-label), und dem Einsatz eines Arzneimittels, wenn dieses in Deutschland oder EU-weit noch gar keine Zulassung besitzt (no-label bzw. "unlicensed"). 

Gegenstand der Diskussion in Berlin war ausschließlich die zuerst genannte Sachlage. Das Bundessozialgericht hat einen so definierten Off-Label-Use zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen (GKVen) grundsätzlich ausgeschlossen, jedoch hat es bestimmte Kriterien definiert, die alle zutreffen müssen, damit eine Off-Label-Anwendung zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung dennoch möglich ist:
  • Es liegt eine schwerwiegende Erkrankung vor.

  • Es ist keine andere, gleichwertige Therapie verfügbar.

  • Die Daten, die in dem betreffenden Anwendungsgebiet für das Präparat vorliegen, lassen einen Behandlungserfolg erwarten.
Da diese Kriterien auslegungsfähig sind, kann es dazu kommen, dass ein behandelnder Arzt, der ein Medikament für ein nicht-zugelassenes Anwendungsgebiet einsetzen will, in einen Konflikt gerät: Einerseits besteht der Wunsch, dem Patienten eine Behandlung zukommen zu lassen, die er im Vergleich zu allen anderen zugelassenen Therapiemöglichkeiten als überlegen einschätzt, andererseits könnte es sein, dass er mit einem Regressverfahren zu rechnen hat. Eine der Ursachen für diese mögliche Konfliktsituation ist die Tatsache, dass sich der medizinische Kenntnisstand, gerade im Bereich Onkologie, oft wesentlich schneller entwickelt als der Zulassungsstatus entsprechender Arzneimittel.

Ziel muss es daher sein, die zeitliche Lücke zwischen dem Stand des Wissens und dem Stand der Zulassung zu verringern. Um den jeweils aktuellen fachlich-medizinischen Kenntnisstand zu ermitteln, hat das Bundesministerium für Gesundheit Off-Label-Expertengruppen eingerichtet. Ihre Aufgabe ist es, dem Gemeinsamen Bundesausschuss nach Literatursichtung und Prüfung der Erkenntnislage eine Bewertung zu bestimmten Off-Label-Anwendungen vorzulegen. Auf Basis dieser Bewertung trifft der Gemeinsame Bundesausschuss eine Entscheidung, ob entsprechende Anwendungen in die Arzneimittelrichtlinien als erstattungsfähig oder nicht erstattungsfähig aufgenommen werden. Aber auch solche Prozesse brauchen Zeit. Wichtig ist daher aus Sicht der Experten, den Spagat zu schaffen zwischen der individualmenschlichen Perspektive und den gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen. 

Neue Perspektiven ergeben sich aus Sicht von Rechtsanwalt Andreas Jede (Kanzlei Dr. Schmitz & Partner, Berlin) durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Dieses höchstrichterliche Urteil ist aus Sicht von Rechtsanwalt Jede sehr positiv einzuschätzen, weil es die Grenzen für das dritte vom Bundessozialgericht definierte Kriterium beträchtlich sinken lässt. 

Wichtig ist nach Ansicht von Prof. Dr. Ulrich Keilholz, Vorsitzender der Expertengruppe Off-Label Onkologie und Vorstandsmitglied der Deutschen Krebsgesellschaft, eine Vorselektion der zu prüfenden Off-Label-Anwendungen nach der Häufigkeit der Fälle. Da Prof. Keilholz eine zeitnahe Abarbeitung der Fälle bei den gegebenen Kapazitäten der Off-Label-Expertengruppen für nicht realistisch hält, plädiert er für praktikable Einzelfalllösungen: er fordert eine adäquate Versorgung von Patienten auch während schwebender Verfahren und gleichzeitig die Bereitschaft der Ärzte, im Ernstfall zu verordnen und notfalls ein Regressverfahren in Kauf zu nehmen. 

Als eine mögliche Lösung zur Überbrückung der Zeit bis zum Abschluss der Be-wertungsverfahren durch die Off-Label-Expertengruppen wurde über eine so genannte "Flugscheinlösung" diskutiert. Gemeint ist damit eine Art "Lizenz" für Fachärzte, sich aufgrund ihrer Ausbildung und Berufserfahrung bei reduziertem Regressrisiko fundiert für eine Off-Label-Anwendung entscheiden zu können. Die Kombination einer solchen Lösung mit der Arbeit der Off-Label-Expertengruppen könnte dazu beitragen, dass viele Fälle bereits ohne Bearbeitung durch die Expertengruppen durch kompetente Ärzte entschieden würden, sodass sich die Expertengruppen auf wenige, relevante Fragestellungen konzentrieren könnten. Ministerialrat PD Dr. Walter Schwerdtfeger vom Bundesministerium für Gesundheit zeigte sich bezüglich dieses Vorschlags offen und würde ein entsprechendes Fachgespräch mit allen Interessengruppen begrüßen – ein Gedanke, der von allen Seiten unterstützt wurde.

Quelle: Pressemitteilung der Deutschen Leukämie- & Lymphom-Hilfe e.V. (DLH) vom 03.05.2006