- Published on 07.10.2010, 15:06
- Von Jan Geissler
Glivec ist wie die meisten Arzneimittel in ihrer Wirksamkeit bisher noch unzureichend speziell für Kinder untersucht worden. Faustregeln wie "Kinder nehmen die Hälfte" oder die Umrechnung nach Körpergröße oder Gewicht gehen in die falsche Richtung - Kinder sind auch rein biologisch keine "kleinen Erwachsenen". Da jedoch bei an CLL oder AML erkrankten Kindern nach einer fehlgeschlagenen Transplantation die medikamentöse Therapie lebensrettend sein kann, sind Studien zur Dosierung, Verträglichkeit und Wirksamkeit dringend nötig. Eine Forschergruppe aus den USA und Kanada hat diese Punkte erstmals in einer Phase-I-Studie untersucht und ihre Ergebnisse nun im Fachmagazin Blood vorgestellt.
Ergebnisse
Hierbei wurden die Ergebnisse einer klinischen Studie an 31 jungen Patienten zwischen 3 und 20 Jahren veröffentlicht, die eine Resistenz in einer Philadelphia-Chromosom-positiven Leukämie (ALL, CML) entwickelt hatten. Ziel der Studie war, dosislimitierende Giftigkeiten und die Pharmakokinetik zu bestimmen.
Die Teilnehmer der Studie erhielten tägliche Dosen zwischen 260mg und 570mg/m2 über eine Dauer von 28 Tagen (Hinweis: die Dosis wird in Studien bei Kindern anhand der Körperoberfläche in m2 dokumentiert). Die Ergebnisse waren gut: Von 12 CML-Patienten, die eine zytogenetische Antwort zeigten, hatten10 ein komplettes und 1 eine teilweises zytogenetisches Ansprechen. Unter den 10 ALL-Patienten, die ein morphologisches Ansprechen erreichten, erreichten sieben ein M1- und einer ein M2-Knochenmark.
Nebenwirkungen waren ähnlich den Erfahrungen bei Erwachsenen: Es wurde in der Studie keine maximal tolerierte Dosis identifiziert. Die aus der Imatinib-Therapie bekannten Nebenwirkungen taten bei weniger als 5% der Patienten auf und schlossen Übelkeit (Grad 1 und 2), Erbrechen, Ermüdung, Durchfall und reversible Zunahmen von Serumtransaminasen ein. Ein Patient, der 440mg/m2 einnahm, zeigte dosiseinschränkende Gewichtszunahme.
Die tägliche orale Gabe von Imatinib wurde insgesamt von Kindern mit Philadelphia-Chromosom-positiver Leukämie in Dosen von 260-570mg/m2 gut vertragen; die Verabreichung von 260-340mg/m2 liefern eine ähnliche systemische Wirkung wie die bei Erwachsenen übliche Dosis zwischen 400 und 600mg.
Hintergrund
Die meisten Arzneimittel, die Kinderärzte sehr jungen Patienten in Krankenhäusern und Praxen verabreichen, sind in ihrer Wirksamkeit nicht speziell für Kinder untersucht worden. Die Faustregel "Kinder nehmen die Hälfte" ist völlig unzutreffend, denn Wirksamkeit und Nebenwirkungen von Medikamenten hängen stark vom Stoffwechsel des Patienten ab, der nichts mit der Körpergröße zu tun hat - Kinder sind biologisch keine "kleinen Erwachsenen". Auch die Methode, die Dosis nach dem geringeren Körpergewicht umzurechnen, funktioniert nicht immer: Kleinkinder im Krabbelalter scheiden Medikamente beispielsweise sehr schnell aus und benötigen – bezogen auf ihr Körpergewicht – erheblich höhere Dosen als Erwachsene.
Das Problem bei Studien mit Kindern: Einerseits werden Studien mit Kindern kontrovers diskutiert, andererseits aber sind genau fehlende Daten das Problem in der klinischen Praxis. Andererseits lohnt es sich nur in den seltensten Fällen finanziell für die Pharmaindustrie, Medikamente auch für die Zulassung bei Kindern zu testen: die Studien sind besonders aufwändig und teuer, gleichzeitig verheißt das Marktsegment "Kinder" nur geringen Umsatz. In den USA wurde hier ein finanzieller Anreiz für die Pharmafirmen geschaffen: wer Medikamente auch an Kindern erprobt, erhält längeren Patentschutz auf die Substanz. In Europa dagegen stecken Bestrebungen, die Situation der kleinen Patienten zu verbessern, noch in den Kinderschuhen; die neue EU-Direktive zur Durchführung klinischer Studien verschärft die bürokratischen Bedingungen für Arzneimittelstudien mit Kindern noch weiter.
Quellen:
- Artikel im Fachmagazin Blood von Juni 2004: "Imatinib mesylate (STI571) for treatment of children with Philadelphia chromosome-positive leukemia: results from a Children's Oncology Group phase I study"
Martin A Champagne, Renaud Capdeville, Mark Krailo, Wenchun Qu, Bin Peng, Marianne Rosamilia, Martine Therrien, Ulrike Zoellner, Susan Blaney, and Mark Bernstein
Hopital Ste-Justine, Montreal, Quebec, Canada
Novartis Pharma AG, Basel, Switzerland
Children's Oncology Group, Arcadia, California, USA
Baylor College of Medicine, Houston, Texas, USA
- NDR-Artikel vom 26.11.2002: "Fehlende Studien – Pillen für Kinder unzureichend geprüft"
Philadelphia-Chromosom
Charakteristisches Merkmal der chronisch myeloischen Leukämie. Die Chromosomenmutation entsteht durch Transfer des Hauptteils des langen Arms von Chromosom 9 nach Chromosom 22 (= Translokation).
Transplantation
Übertragung von Gewebe. Für die Transplantation können eigene Zellen autologe T. oder fremde Zellen allogene T. verwandt werden.
Pharmakokinetik
Die Pharmakokinetik beschreibt, wie rasch und in welchem Ausmaß nach der Verabreichung eines Stoffes dieser anschließend im Blutplasma und in den verschiedenen Körpergeweben auftritt und wo und in welcher Weise er wieder ausgeschieden wird.
Nebenwirkung
Unerwünschte Begleiteffekte einer Therapie, besonders bei Chemotherapien begrenzen Nebenwirkungen die maximal verträgliche Dosis.
Transaminase
Als Aminotransferasen, oder nach alter Nomenklatur Transaminasen, bezeichnet man die zur Gruppe II der EC-Klassifikation gehörigen Enzyme, die den Austausch von Aminogruppen zwischen Aminosäuren und α-Ketosäuren katalysieren. Erhöhungen dieser beiden Enzyme deuten in der Regel auf Veränderungen bzw. Krankheiten im Bereich der Leber hin.
Knochenmark
Das Innere der großen Knochen - vor allem des Hüftknochens und des Oberschenkels. Dort werden die Blut- und Immunzellen gebildet. Das Knochenmark bildet sich ständig neu.
Resistenz
Unempfindlichkeit gegenüber einer Behandlung, z.B. von Krebszellen gegen eine Therapie
Imatinib
Imatinib, Handelsname Glivec/Gleevec, Laborname STI-571, ein BCR-ABL-Tyrosinkinasehemmer der ersten Generation. Zugelassen seit Jahr 2002 für die Behandlung der CML und Ph-positiven ALL.
Phase I
Die klinische Erprobung eines Medikaments erfolgt in der Regel in drei Phasen, um Menschen vor noch unbekannten gefährlichen und unerwünschten Nebenwirkungen zu schützen und um die finanziellen Mittel möglichst effizient einzusetzen. In einer Phase-I-Studie wird ein Medikament von wenigen Testpersonen eingenommen. Dabei wird untersucht, ob das Medikament gut verträglich ist, welche Nebenwirkungen auftreten und welche Dosierungsart optimal ist. Diese Studien werden ohne Kontrollgruppe durchgeführt.
Kinetik
Bewegung oder Geschwindigkeit biologischer Prozesse
Grad 1
geringe Nebenwirkungen.
Glivec
Imatinib wird unter dem Handelsnahmen Glivec (Hersteller Novartis) vertrieben.
oral
Den Mund betreffend, am Mund gelegen, durch den Mund
Gen
Informationseinheit des Erbgutes, enthält meist den Bauplan für ein Protein. Die Gene liegen im Zellkern in Form von DNS vor.
CHR
Komplette hämatologische Remission (complete haematologic response).
ELN
Das Europäische Leukämie Netz ist eine von der EU finanzierte Organisation bestehend aus Medizinern, Wissenschaftlern und Patienten aus dem Leukämie-Bereich, das zum Ziel hat, die Behandlung von Leukämie-Erkrankungen zu verbessern, Wissen zu generieren und dieses Wissen in Europa zu verbreiten.
Arm
= Behandlungsgruppe. Eine klinische Studie ist einarmig, wenn es nur eine Behandlungsgruppe und keine Kontrollgruppe gibt. In den meisten Studien gibt es zwei oder mehr Arme.
MR
Molekulares Ansprechen (= molecular response (engl.). Es wird ausgedrückt durch die Anzahl der CML-spezifischen Gene im Blut
Klinische Studie
Wissenschaftliche Forschungsarbeit zur Behandlung von Krankheiten beim Menschen nach strengen medizinischen und ethischen Regeln
Klinische Studie
Wissenschaftliche Forschungsarbeit zur Behandlung von Krankheiten beim Menschen nach strengen medizinischen und ethischen Regeln
Klinische Studie
Wissenschaftliche Forschungsarbeit zur Behandlung von Krankheiten beim Menschen nach strengen medizinischen und ethischen Regeln
Transaminase
Als Aminotransferasen, oder nach alter Nomenklatur Transaminasen, bezeichnet man die zur Gruppe II der EC-Klassifikation gehörigen Enzyme, die den Austausch von Aminogruppen zwischen Aminosäuren und α-Ketosäuren katalysieren. Erhöhungen dieser beiden Enzyme deuten in der Regel auf Veränderungen bzw. Krankheiten im Bereich der Leber hin.
Chromosomen
Träger des Erbguts im Zellkern. Sie enthalten die riesigen Kettenmoleküle der DNA kompakt verdrillt und gefaltet als Aggregate mit speziellen Proteinen. Die Chromosomen dienen unter anderem bei der Zellteilung der gleichen Verteilung des Erbguts auf die Tochterzellen. Die normalen menschlichen Körperzellen haben 46 Chromosomen. Bei Krebszellen kann die Zahl und/oder Struktur der Chromosomen verändert sein.
oral
Den Mund betreffend, am Mund gelegen, durch den Mund
Gen
Informationseinheit des Erbgutes, enthält meist den Bauplan für ein Protein. Die Gene liegen im Zellkern in Form von DNS vor.
Gen
Informationseinheit des Erbgutes, enthält meist den Bauplan für ein Protein. Die Gene liegen im Zellkern in Form von DNS vor.