Hallo Nelly,
Danke für Deinen Beitrag auch Deine Gedanken sowie die Weiterleitung des DW-Artikels.
Auch wenn ich weiss, dass das Thema Impfungen ein emotional momentan sehr aufgeladenes Thema ist, möchte ich einen Versuch machen, meine subjektive Sicht darauf zu schildern.
Leider sind eigentlich einfache und auf den ersten Blick plausible Lösungen oftmals in der Praxis nicht so einfach. Denn Patente sind nicht unser Hauptproblem, warum die Impfstoffentwicklung so kompliziert ist, wie wir momentan in der Diskussion rund um das Oxford/AstraZeneca-Produkt live verfolgen können.
Ich möchte dazu etwas ausholen.
Im Gegensatz zu chemischen Produkten, also z.B. in Tablettenform verabreichte Krebsmedikamente, sind biologische Produkte wie Vakzine sehr viel komplizierter. Es gibt nur vergleichsweise wenige Hersteller, die das können, und es dauert üblicherweise viele Monate bis Jahre, um eine solche in Massenproduktion mit einer entsprechenden "Ausbeute" umzusetzen.
Impfstoffe wie der von AstraZeneca sind im Gegensatz zu den neuen mRNA- Impfstoffen "traditionelle" Impfstoffe mit Genfähren, basierend auf einer sogenannten Virus-Vektor-Methode. Dabei wird ein Stück der Erbsubstanz eines Virus einem anderen Virus eingebaut und dieser transportiert es - wie eine Fähre - in die Körperzellen hinein. Der Produktionsprozess hat viele Schritte, und bei jedem kann leicht etwas schiefgehen. In riesigen Tanks werden menschliche Zellkulturen gezüchtet, mit denen dann im Labor gezüchtete Impfviren infiziert werden. Diese Zellen sind wie Mimosen - sie brauchen die exakt richtige Temperatur und Nährstoffzusammensetzung, und müssen in einer Geschwindigkeit im Tank bewegt werden, dass sie nicht verklumpen, wachsen, und nicht absterben. Ist die Vermehrung abgeschlossen, wird geerntet, die Zellen aufgelöst, die Viren rausgefiltert und zum fertigen Impfstoff verarbeitet. Taucht auf dem Prozessweg die geringste Verunreinigung auf (Viren, die nicht reingehören, Bakterien, etc), wird alles vernichtet und die Produktion steht still, bis das Problem gelöst ist. Es dauert Monate, bis der Prozess so funktioniert, dass die Viren-Ausbeute gut ist. Diesen Prozess können nur wenige Unternehmen bewerkstelligen, und wir beobachten im Moment wegen Corona im Zeitraffer einen Prozess, der in der Vergangenheit Jahre gebraucht hat. Im Falle von AstraZeneca produzieren den Impfstoff drei eigene Werke, die man für COVID-Impfstoffe umgebaut hat, zusätzlich haben sie eine Lizenz an das Serum Institute of India vergeben, gemessen am Produktionsvolumen der größte Impfstoffhersteller der Welt.
Die mRNA-Impfstoffe von Biontech und Moderna funktionieren anders. Die mRNA-Impfstoff-Technologie ist brandneu und wurde im Rahmen der MARS/SARS-Epidemie entwickelt. Der Impfstoff enthält Boten-RNA, einen genetischen Baustein der Coronaviren, den das Immunsystem erkennt und dann Antikörper entwickelt. Sie verändern NICHT das Erbgut, aber imitieren quasi das, was in einer infizierten Zelle geschieht, aber nur mit einem einzigen kleinen Stück der Gene des Corona-Virus, nämlich dem sogenannten coronatypischen Spike-Protein. Statt in deaktivierten Viren als Transportvehikel wird diese mRNA in so etwas wie kleine Fetttröpfchen verpackt, damit sie überhaupt geschützt in den Körper kommen und von den menschlichen Zellen aufgenommen werden können. Die mRNA kann durch neuartige Verfahren mit Maschinen "gedruckt" werden (was gut ist, weil man den "Druckjob" sehr leicht modifizieren kann, wenn z.B. zusätzliche Mutationen auftauchen). Die mRNA-Bausteine zerfallen aber sehr leicht und müssen daher in den Fettbläschen mit einer extremen Kühlkette bis zur Verabreichung geschützt werden. mRNA-Produktion und der ganze Prozess samt Kühllogistik in diesen riesigen Mengendimensionen können wiederum aber auch nur ganz wenige Unternehmen. Die aktuellen Lieferverzögerungen beim Biontech-Produkt werden anscheinend verursacht durch ein umbaubedingten Produktionsstopp an der Pfizer-Produktionsstätte, um mittelfristig die Produktionskapazität stark zu erhöhen. Weitere Produktionsstätten entstehen im Moment, auch in Deutschland.
Gleichzeitig ist unser Qualitätsanspruch extrem hoch. Ein immenser, kaum mehr gut zu machender Schaden würde entstehen, wenn breitere Teile der Bevölkerung Zweifel an der Sicherheit und Qualität der Impfstoffe hätten, die Impfbereitschaft würde zusammenbrechen und wir würden nie zum Punkt der erforderlichen Immunität kommen. Daher sind die Ansprüche an die Produktionsstandards (Good Manufacturing Process), Qualitätskontrolle, Zuverlässigkeit der gesamten Produktions- und Logistikkette, klinische Studien, Prüfprozesse der Behörden und so weiter sehr hoch. Daher lässt die EU auch, anders als Großbritannien, die Impfstoffe nur nach Prüfung (für EMA-Verhältnisse in Rekordzeit) mit bedingter Zulassung und Herstellerauflagen zur Weiterführung der Impfstudien zu -- und nicht wie in Grossbritannien und USA als Notfallzulassung, die den Hersteller von Haftung freistellt und eine weniger eingehende regulatorische Prüfung und Dokumentation zulässt.
Eine schnelle regulatorische Prüfung und Zulassung geht aber nur, wenn die Studien und Produktion von hochspezialisierten Unternehmen gemacht werden, die das von Anfang bis Ende bewiesenermaßen können. Und davon gibt es vielleicht zwei Dutzend Unternehmen weltweit, und die arbeiten im Moment alle am Limit an COVID-Impfstoffen, und haben mit hunderten von Millionen Euro Vorauszahlungen der EU und anderer Länder Monate vor Zulassung die Produktion gestartet, um zum Zeitpunkt der Markzulassung bereits in großen Mengen liefern zu können. Neulich habe ich eine Präsentation mit rund 50 Impfstoffkandidaten in klinischen Studien von Phase I bis III gesehen. Die amerikanische Merck (hier MSD) ist vor ein paar Tagen gescheitert und kann die Vorproduktion und Entwicklung einstampfen, weil deren Vakzin in klinischen Studien nicht ausreichen geschützt hat, und die Firma verhandelt angeblich nun, in ihren bestehenden Produktionsstätten das Vakzin der Konkurrenz herzustellen.
Ich denke, wir wollen alle, dass das, was wir und unsere Angehörigen bekommen, in der gesamten Kette nach besten Standards entwickelt und produziert wird. Wir erleben im Moment aufgrund der Pandemie die Impfstoffentwicklung und Produktion im Zeitraffer unter bestmöglichen Sicherheitsbedingungen, und mit Produktion, die bereits (parallel zu den klinischen Studien mit Zehntausenden von Probanden) vorläuft und natürlich dadurch die Gefahr birgt, dass man die Vorproduktion komplett vernichten muss, wenn aufgrund mangelnder Wirksamkeit oder Sicherheit keine Zulassung erfolgt.
Es ist gerade mal ein Jahr her, seit man das SARS-COV-2-Virus wissenschaftlich das erste Mal untersuchen konnte. Die schnellste Impfstoffentwicklung davor war gegen Mumps - das hat meines Wissens vier Jahre gedauert. Und trotz allem Wunsch, möglichst schnell eine Impfung und Produktion für alle zu haben, um diese Pandemie loszuwerden, ist es in niemandem Interesse, dass irgendwelche Unternehmen mit fraglicher Produktionsqualität und Vakzinerfahrung Impfstoffe produzieren.
Dies war eine lange Hintergrunderklärung, aber vielleicht wichtig zum Verständnis, warum Patente im Moment nicht unser Hauptproblem sind. Die Diskussionen über Patente finden natürlich statt, und das ist gut - weil COVID ein globales Problem ist und aktuell 95% aller Impfstoffe in maximal drei Dutzend Länder gehen - der Rest der Welt bleibt außen vor. Du kannst ja mal nach "Compulsory Licensing" und "Voluntary Licensing" via Google suchen, die Diskussionen gibt es. Aber Patentdiskussionen bringen uns in den nächsten Monaten zumindest nicht wirklich weiter, so wenig wie Impfnationalismus (USA, UK, EU), Impfskeptizismus oder Social-Media-Fake-News.
...und wer am Thema COVID-Impfung bei CML und MPN interessiert ist, ist herzlich bei unserem Impf-Patientenseminar am 23.2. um 16:30 willkommen!
https://www.leukaemie-online.de/1366-webinarimpfungen
und zusätzlich Verweise ich auf die Artikel auf Seite 2 der heutigen Süddeutschen Zeitung, die das alles sehr gut erklären und auf dem ich obige Informationen teilweise basiert habe.
Nicht falsch verstehen. Dein Patent- und Preis-Thema ist wichtig, und wir werden in den nächsten 12 Monaten sehr viel über Patente und die Versorgung von 7 Milliarden Menschen mit dieser Corona-Impfung und den entsprechenden Preisen und Kosten diskutieren.
Viele Grüße
Jan