von jan » 17.03.2006, 18:05
Hallo Pascal,
ich selbst bin auch sehr betroffen durch die Meldungen, wie es den Probanden nach Einnahme dieses sehr jungen Medikaments TGN 1412 geht. Man konnte wohl aus den vorhergegangenen Tierversuchen sowie Laborversuchen an menschlichen Zellen nicht vorhersehen, dass es im Gesamtkomplex des menschlichen Körpers zu solchen Reaktionen kommen könnte. So Heftiges passiert zum Glück bei den zehntausenden von Studien in früher Phase, die momentan weltweit gleichzeitig durchgeführt werden, sehr selten.
Ob es sich um einen Fehler der durchführenden Institution, um verunreinigte Stoffe oder um einen nicht vorhersehbaren Effekt im Körper handelt, bei der das Medikament an anderer Stelle lebenswichtige Fuktionen blockiert, wird man mit Sicherheit in Kürze wissen - es wird deswegen ermittelt, der juristische Rahmen ist dafür ausreichend.
Dennoch muss man das Ganze in den Gesamtzusammenhang setzen, bevor man mit großem Hurra mit der breiten Keule schwingt, die vielleicht Schaden anrichtet und niemandem von uns wirklich hilft.
Erstmal bin ich persönlich dankbar, dass so viele Studien an verschiedener Stelle durchgeführt werden. Letztlich verdanken die meisten Leukämiepatienten - wie auch mir - heute ihr Leben der Tatsache, dass vorher einige gesunde Probanden und später tausende Leukämiepatienten an einer Studie teilgenommen haben, statt sich ohne strukturierte Beobachtung behandeln zu lassen. Dabei wurden natürlich auch Medikamente getestet, die weder den Teilnehmern der Studie, noch den Unternehmen Vorteile gebracht haben. Denn nur auf wissenschaftlich haltbaren, statistisch aussagekräftigen Daten kann eine sichere Zulassung eines Medikaments erfolgen - und ohne vergleichende Studien weiss man nunmal nicht viel.
Studien in frühen Phasen I und II sind natürlich nicht ohne Risiko, und gerade bei Phase I, der ersten Stufe der Erprobung im Menschen, wird das Medikament nach Tierversuchen und an menschlichen Zellkulturen erstmalig im menschlichen Körper selbst getestet. Dabei kann sich auch herausstellen, dass gar nichts passiert - oder dass das Medikament zwar den gewünschten Effekt erzielt, aber andere Dinge blockiert, die es nicht sollte. In Phase I wird der Versuch öfters an gesunden Probanden durchgeführt, da man wohl auch davon ausgeht, dass ein gesunder Körper mit eventuellen Nebenwirkungen besser zurecht kommt. Dass gesunde Probanden hierfür Geld verlangen, da sie mangels Erkrankung kein Eigeninteresse an einer möglichen Wirkung oder an den Forschungsergebnissen haben, ist meiner Ansicht nach durchaus nachvollziehbar.
Eine andere Sache ist dies bei Phase II-Studien, die an einer höheren Zahl tatsächlich Erkrankter durchgeführt werden. Für viele Krebspatienten, die auf die frei erhältliche Standardtherapie nicht mehr ansprechen, ist ein noch experimentelles Studienmedikament oft die einzige Chance auf Überleben. Ich finde, die Chance auf Überleben und der Beitrag zur Forschung sollte Antrieb für uns Patienten sein, sich an klinischen Studien zu beteiligen - und nicht, dafür bezahlt zu werden. Aber das ist vielleicht meine persönliche Meinung.
Ich habe in privaten Diskussionen mit Dir ja schon früher erwähnt, dass Leukämieerkrankungen im Gegensatz zu manch anderer Krebserkrankung recht selten sind ("Orphan Diseases", seltene Erkrankungen). Für seltene Krebserkrankungen lohnt sich die Durchführung aller Schritte bis zur Zulassung leider sehr oft wirtschaftlich nicht, so dass manche Wirkstoffe trotz ordentlicher Wirkung nicht bis zur Marktreife gelangen. Glivec war in dieser Hinsicht eine Überraschung, da zum Entwicklungszeitpunkt noch niemand an seine Wirksamkeit glaubte und gar nicht absehbar war, dass es längerfristig funktioniert oder jemals die CML-Standardtherapie werden könnte - und auch für GIST, ALL und andere Indikationen Wirkung zeigt. Der wirtschaftliche Erfolg dieses Medikaments war vor den Ergebnissen der IRIS-Studie (Phase III) nicht zu ahnen.
Auch steht es in Frage, ob es gerade wegen des Erfolgs von Glivec - auch nach fünf Jahren Erfahrung - jemals wirtschaftlich ein Erfolg sein wird, weitere Mittel gegen Glivec-Resistenz bis zur Marktzulassung zu bringen - wofür Kosten im zwei- bis dreistelligen Millionenbereich anfallen. Denn wenn davon nur ein paar Prozent einer sowieso schon recht kleinen Patientengruppe wie CML profitieren, weil der Rest auch langfristig mit Glivec sehr erfolgreich behandelt werden würde, ist die Frage, ob die Kosten jemals wieder reinkommen. Das sollte man bedenken, wenn man Forderungen stellt.
Letztlich ist es eine wirtschaftliche Abwägung eines Unternehmens im Wettbewerb, deren vollständiges Verständnis der Gesamtzusammenhänge sich mir entzieht, so dass ich darüber daher auch nicht endgültig urteilen möchte. Fakt ist aber, dass ich sehr dankbar bin, dass die klinische Forschungsgemeinschaft gemeinsam mit "Big Pharma" so viel in eine recht seltene Erkrankung wie Leukämie investiert und unzählige Studien durchführt - und Menschen und Unternehmen dafür Risiken in Kauf nehmen. Meiner Ansicht nach benötigen wir im Vergleich zu den USA in Europa weniger und nicht mehr Bürokratie und Hürden für die Durchführung von Studien -- und auch den Anreiz, dass damit Geld verdient werden kann.
Es hilft uns mit Sicherheit nicht, diesen tragischen Fall der TGN-Studie mit einer anti-wirtschaftlichen Kampagne zu kapern, z.B. unter dem Vorwand, gesunde Probanden würden ja auch Geld für ihre Teilnahme bekommen. Wenn wir mit einer solchen Aktivität erreichten, dass sich unter dem Deckmantel der "Fairness" die Rahmenbedingungen für Studien bei uns verschlechtern und sich die Anreize zur Entwicklung und Erprobung von Krebsmedikamenten verringern, hätten wir Krebspatienten einen Pyrrhussieg errungen. Denn was hilft es uns im Akut- oder Resistenzfall, wenn eventuell lebensrettende Studien nur noch in den USA stattfinden?
Mit nachdenklichen Grüßen,
Jan
[addsig]
Hallo Pascal,
ich selbst bin auch sehr betroffen durch die Meldungen, wie es den Probanden nach Einnahme dieses sehr jungen Medikaments TGN 1412 geht. Man konnte wohl aus den vorhergegangenen Tierversuchen sowie Laborversuchen an menschlichen Zellen nicht vorhersehen, dass es im Gesamtkomplex des menschlichen Körpers zu solchen Reaktionen kommen könnte. So Heftiges passiert zum Glück bei den zehntausenden von Studien in früher Phase, die momentan weltweit gleichzeitig durchgeführt werden, sehr selten.
Ob es sich um einen Fehler der durchführenden Institution, um verunreinigte Stoffe oder um einen nicht vorhersehbaren Effekt im Körper handelt, bei der das Medikament an anderer Stelle lebenswichtige Fuktionen blockiert, wird man mit Sicherheit in Kürze wissen - es wird deswegen ermittelt, der juristische Rahmen ist dafür ausreichend.
Dennoch muss man das Ganze in den Gesamtzusammenhang setzen, bevor man mit großem Hurra mit der breiten Keule schwingt, die vielleicht Schaden anrichtet und niemandem von uns wirklich hilft.
Erstmal bin ich persönlich dankbar, dass so viele Studien an verschiedener Stelle durchgeführt werden. Letztlich verdanken die meisten Leukämiepatienten - wie auch mir - heute ihr Leben der Tatsache, dass vorher einige gesunde Probanden und später tausende Leukämiepatienten an einer Studie teilgenommen haben, statt sich ohne strukturierte Beobachtung behandeln zu lassen. Dabei wurden natürlich auch Medikamente getestet, die weder den Teilnehmern der Studie, noch den Unternehmen Vorteile gebracht haben. Denn nur auf wissenschaftlich haltbaren, statistisch aussagekräftigen Daten kann eine sichere Zulassung eines Medikaments erfolgen - und ohne vergleichende Studien weiss man nunmal nicht viel.
Studien in frühen Phasen I und II sind natürlich nicht ohne Risiko, und gerade bei Phase I, der ersten Stufe der Erprobung im Menschen, wird das Medikament nach Tierversuchen und an menschlichen Zellkulturen erstmalig im menschlichen Körper selbst getestet. Dabei kann sich auch herausstellen, dass gar nichts passiert - oder dass das Medikament zwar den gewünschten Effekt erzielt, aber andere Dinge blockiert, die es nicht sollte. In Phase I wird der Versuch öfters an gesunden Probanden durchgeführt, da man wohl auch davon ausgeht, dass ein gesunder Körper mit eventuellen Nebenwirkungen besser zurecht kommt. Dass gesunde Probanden hierfür Geld verlangen, da sie mangels Erkrankung kein Eigeninteresse an einer möglichen Wirkung oder an den Forschungsergebnissen haben, ist meiner Ansicht nach durchaus nachvollziehbar.
Eine andere Sache ist dies bei Phase II-Studien, die an einer höheren Zahl tatsächlich Erkrankter durchgeführt werden. Für viele Krebspatienten, die auf die frei erhältliche Standardtherapie nicht mehr ansprechen, ist ein noch experimentelles Studienmedikament oft die einzige Chance auf Überleben. Ich finde, die Chance auf Überleben und der Beitrag zur Forschung sollte Antrieb für uns Patienten sein, sich an klinischen Studien zu beteiligen - und nicht, dafür bezahlt zu werden. Aber das ist vielleicht meine persönliche Meinung.
Ich habe in privaten Diskussionen mit Dir ja schon früher erwähnt, dass Leukämieerkrankungen im Gegensatz zu manch anderer Krebserkrankung recht selten sind ("Orphan Diseases", seltene Erkrankungen). Für seltene Krebserkrankungen lohnt sich die Durchführung aller Schritte bis zur Zulassung leider sehr oft wirtschaftlich nicht, so dass manche Wirkstoffe trotz ordentlicher Wirkung nicht bis zur Marktreife gelangen. Glivec war in dieser Hinsicht eine Überraschung, da zum Entwicklungszeitpunkt noch niemand an seine Wirksamkeit glaubte und gar nicht absehbar war, dass es längerfristig funktioniert oder jemals die CML-Standardtherapie werden könnte - und auch für GIST, ALL und andere Indikationen Wirkung zeigt. Der wirtschaftliche Erfolg dieses Medikaments war vor den Ergebnissen der IRIS-Studie (Phase III) nicht zu ahnen.
Auch steht es in Frage, ob es gerade wegen des Erfolgs von Glivec - auch nach fünf Jahren Erfahrung - jemals wirtschaftlich ein Erfolg sein wird, weitere Mittel gegen Glivec-Resistenz bis zur Marktzulassung zu bringen - wofür Kosten im zwei- bis dreistelligen Millionenbereich anfallen. Denn wenn davon nur ein paar Prozent einer sowieso schon recht kleinen Patientengruppe wie CML profitieren, weil der Rest auch langfristig mit Glivec sehr erfolgreich behandelt werden würde, ist die Frage, ob die Kosten jemals wieder reinkommen. Das sollte man bedenken, wenn man Forderungen stellt.
Letztlich ist es eine wirtschaftliche Abwägung eines Unternehmens im Wettbewerb, deren vollständiges Verständnis der Gesamtzusammenhänge sich mir entzieht, so dass ich darüber daher auch nicht endgültig urteilen möchte. Fakt ist aber, dass ich sehr dankbar bin, dass die klinische Forschungsgemeinschaft gemeinsam mit "Big Pharma" so viel in eine recht seltene Erkrankung wie Leukämie investiert und unzählige Studien durchführt - und Menschen und Unternehmen dafür Risiken in Kauf nehmen. Meiner Ansicht nach benötigen wir im Vergleich zu den USA in Europa weniger und nicht mehr Bürokratie und Hürden für die Durchführung von Studien -- und auch den Anreiz, dass damit Geld verdient werden kann.
Es hilft uns mit Sicherheit nicht, diesen tragischen Fall der TGN-Studie mit einer anti-wirtschaftlichen Kampagne zu kapern, z.B. unter dem Vorwand, gesunde Probanden würden ja auch Geld für ihre Teilnahme bekommen. Wenn wir mit einer solchen Aktivität erreichten, dass sich unter dem Deckmantel der "Fairness" die Rahmenbedingungen für Studien bei uns verschlechtern und sich die Anreize zur Entwicklung und Erprobung von Krebsmedikamenten verringern, hätten wir Krebspatienten einen Pyrrhussieg errungen. Denn was hilft es uns im Akut- oder Resistenzfall, wenn eventuell lebensrettende Studien nur noch in den USA stattfinden?
Mit nachdenklichen Grüßen,
Jan
[addsig]