Schnell und zuverlässig soll eine ärztliche Behandlung wirken - und möglichst durch aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt sein. Fachwissen ist Ärzten heute theoretisch leicht zugänglich: Eine Vielzahl von Fachmagazinen veröffentlicht neue Studienergebnisse im Internet; Erkenntnisse über die Wirksamkeit eines Medikaments zum Beispiel lassen sich mit ein paar Klicks auf den Bildschirm holen. Doch nutzen Mediziner dieses Angebot? Und wenn ja: Handeln sie nach den wissenschaftlichen Empfehlungen?

Am Beispiel von Nesiritide, einem in Deutschland nicht zugelassenen Medikament gegen Herzinsuffizienz, haben der Kardiologe Paul Hauptmann und seine Kollegen von der Saint Louis University School of Medicine diese Frage untersucht (Journal of the American Medical Association, Bd. 296, S. 1877, 2006). Vier Jahre, nachdem Nesiritide im Jahr 2001 in den USA zugelassen worden war, veröffentlichten im März und April vergangenen Jahres zwei angesehene Fachblätter Studien, die erhebliche Nebenwirkungen des Medikaments offen legten. Nesiritide hatte in den Studien die Nierenfunktion vieler Patienten verschlechtert und zu Todesfällen geführt.

Für viele Kardiologen offensichtlich Grund genug, dieses Medikament nicht weiter zu verschreiben: Anfang 2005, vor den Veröffentlichungen, erhielten noch knapp 17 Prozent der 385.000 Patienten mit akutem Herzversagen, deren Daten Hauptmann auswertete, Nesiritide. Im Dezember des selben Jahres waren es nur noch knapp sechs Prozent. Daher kommt Hauptmann zu dem Fazit: Mediziner bekommen es umgehend mit, wenn wissenschaftliche Studien die Unwirksamkeit eines Medikaments belegen, und handeln auch entsprechend den neuen Erkenntnissen. Falle das Urteil der Untersuchung negativ aus wie bei Nesiritide, sei die Bereitschaft zum Umdenken zudem
höher, als wenn die Studien zu einem positiven Urteil über eine neue Arznei kämen. Zum Beispiel die ACE-Hemmer, eine andere Medikamentenklasse gegen-Bluthochdruck und Herzbeschwerden: Nach ihrer Zulassung akzeptierten die Ärzte sie teilweise nur sehr zögerlich, obwohl eine Reihe von Studien zeigte, dass sie relativ gut verträglich und wirksam seien, berichtet Paul Hauptmann.

Wolf-Dieter Ludwig kennt derartige Probleme. Als Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft hält er sich selbst zwar auf dem Laufenden, aber "man muss schon ein persönliches Interesse daran haben". Niedergelassene Mediziner oder junge Ärzte in Kliniken hätten schlicht nicht die Zeit, sich aus der Flut neuer Studien die relevanten herauszusuchen und die Originalartikel zu lesen. "Stattdessen verlassen sie sich auf begleitende Kommentare oder Hochglanzbroschüren, die aber meist von Pharmafirmen herausgegeben werden", sagt Ludwig, der als Onkologe an der Berliner Charite arbeitet.

Rüdiger Simon, Chef der Kardiologie der Kieler Universitätsklinik, beurteilt die Lage als nicht so düster. "Vor allem in einer Uniklinik ist jeder Arzt, so gut er kann, auf dem neuesten Stand. Außerdeminformieren uns die Fachgesellschaften, die auch auf wissenschaftlichen Studien basierende Richtlinien über die richtige Behandlung herausgeben."

Dass Medikamente nicht immer entsprechend ihrer wissenschaftlichen Beurteilung verschrieben werden, ist nicht nur ein Phänomen der schnelllebigen Zeit der Internet-Information. So sahen Wissenschaftler bereits vor mehr als 40 Jahren erste Anzeichen dafür, dass Östrogene Herz und Kreislauf schädigen können. Trotzdem etablierte sich die Hormon-Therapie bei Frauen in den Wechseljahren. Selbst eine groß angelegte Studie der Women's Health Initiative (WHI), die 2002 eindeutig negative Auswirkungen der Hormongaben zeigte, konnte Frauen und Ärzte nur bedingt umstimmen. Vor der WHI-Studie nahmen 125 von 1000 Frauen in den USA Hormone, nach der Studie war diese Zahl lediglich auf 94 gesunken, wie 2005 eine Befragung von 340.000 Frauen ergeben hat.

Welche Arzneien Ärzte bevorzugt verschreiben, hängt zusätzlich von anderen als medizinischen Faktoren ab. Auch der soziale Hintergrund des Arztes oder die finanzielle Situation der Patienten können die Wahl des Medikaments beeinflussen, haben Studien über das Herzmedikaments Digoxin und über Antibiotika gezeigt. "Die Lage ist katastrophal", beurteilt Ludwig die Situation in Deutschland. Seiner Meinung nach sollten auch die Krankenkassen sich darum kümmern, dass Ärzte sich aus unabhängigen Quellen auf den neuesten Stand der Medikamentenforschung bringen können. "Schon allein aus Kostengründen kann es so nicht weiter gehen", sagt der Arzt.

Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 18.10.2006

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