Ein Tumor, das ist ein Haufen entarteter Zellen, die sich unaufhörlich teilen und so das umliegende Gewebe zerstören - so die bisherige Lehrmeinung. Doch offenbar ist dies nicht nur eine stark vereinfachte, sondern auch eine falsche Sicht der Dinge. Denn die Resultate einer Vielzahl von Experimenten, die während der letzten Monate insbesondere in den USA und in Kanada durchgeführt worden sind, stützen eine schon vor Jahrzehnten aufgestellte Hypothese, wonach Krebs als Stammzell-Krankheit anzusehen ist. Diese neue Definition hat nicht nur Bedeutung für das Verständnis von Tumorerkrankungen, sondern könnte auch neue Wege in der Bekämpfung von Krebsleiden eröffnen.

Ein Tumor gleicht einem Organ

Heute beschreiben Experten einen Tumor als ein "Organ", das - wie andere Organe auch - aus Zellen unterschiedlicher Funktionen besteht. Denn offenbar existieren in Krebsgeschwülsten eine Vielzahl von zwar entarteten, aber doch spezialisierten Zellen, die sich ständig teilen und so die Masse des Tumors bilden. Inmitten dieser "Arbeiterinnen" sitzen einige wenige "Königinnen", die sogenannten Krebsstammzellen. Nur diese Stammzellen sind in der Lage, den Tumor am Leben zu erhalten. Denn nur aus ihnen können sich bei der Zellteilung sowohl die spezialisierteren, mit normalen Gewebezellen vergleichbaren Tumorzellen mit einer definierten und endlichen Lebensdauer bilden als auch neue unsterbliche oder nahezu ewig lebende Stammzellen. Diese letztgenannte Fähigkeit einer Zelle nennt man auch Selbsterneuerungspotenzial.

Dieser Eigenschaft verdankt die Krebsstammzelle ihre Entdeckung. Als nämlich John Dick und seine Kollegen an der Universität von Toronto 1997 bei Patienten mit einer besonders aggressiven Form der Leukämie (akute myeloische Leukämie) Krebszellen entnahmen und sie in Mäuse injizierten, erkrankten nur sehr wenige der Tiere an diesem Blutkrebs. Somit schien klar, dass nicht alle, sondern nur eine kleine Minderheit der Leukämiezellen in der Lage waren, einen Tumor in einem neuen Organismus zu bilden. Dick postulierte damals, dass bei einer Leukämie im Blut eine Vielzahl von entarteten Blutzellen, aber nur wenige Krebsstammzellen vorhanden sind. Es gelang ihm sogar, solche Stammzellen zu isolieren und teilweise zu charakterisieren, so dass man heute spezifische Oberflächenproteine kennt, anhand deren man bei einer Leukämie die Krebsstammzellen aufspüren kann.

Der fundamentale Unterschied zwischen einer Krebsstammzelle und einer normalen Gewebestammzelle (zum Beispiel einer Blut-, Hirn- oder Hautstammzelle) ist, dass erstere einige fatale genetische Veränderungen angesammelt hat. Dies erläuterte John Dick kürzlich auf der vom Boehringer-Ingelheim-Fonds organisierten internationalen Titisee-Konferenz in Deutschland. Diese Mutationen führen dazu, dass die äusserst strikte Kontrolle, der eine Gewebestammzelle normalerweise unterliegt, teilweise oder ganz aufgehoben ist. Deswegen kann sich eine Krebsstammzelle ungehindert teilen. Und sie gibt diese Mutationen an alle ihre Tochterzellen weiter, so dass auch diese sich unkontrolliert teilen und schliesslich einen Tumor bilden. Im Verlauf der Zeit können die Krebszellen selber weitere Mutationen ansammeln, die das Wachstum der Geschwulst noch beschleunigen können.


Der Ursprungszelle auf der Spur

Noch ist allerdings nicht bewiesen, aus welcher Zelle sich die Krebsstammzelle bildet. Laut Dick hat man aber eine Reihe von Hinweisen dafür, dass eine normale Gewebestammzelle durch verschiedene Mutationen - diese können genetisch bedingt oder durch Umwelteinflüsse wie Chemikalien oder UV-Licht verursacht sein - zur Krebsstammzelle werden kann. Darauf deute die Expression verschiedener Proteine in der Krebsstammzelle, die sonst nur in gesunden Gewebestammzellen hergestellt würden. Zudem habe man bei Leukämiepatienten beobachtet, dass aus der Krebsstammzelle eine ganze Serie von spezialisierten, ebenfalls entarteten Blutzellen entstünden, die genau dieselben Mutationen wie die Krebsstammzelle aufwiesen; und nur aus einer Zelle, die wie die Gewebestammzelle weit oben in der Zellhierarchie stehe, könnten überhaupt verschiedenartig spezialisierte Zellen entstehen.

Dick erachtet es zudem als wahrscheinlicher, dass eine Zelle wie die Gewebestammzelle, die bereits das Potenzial zur Selbsterneuerung besitze, zur Krebsstammzelle entarte, und nicht eine differenzierte Zelle. Aber es sei, so betonten manche Experten in Titisee, nicht auszuschliessen, dass bei gewissen Krebsarten auch eine bereits teilweise spezialisierte Gewebezelle jene Mutationen erfahre, die sie wieder in den Zustand einer Stammzelle mit Selbsterneuerungspotenzial zurückversetzten. Wie das allerdings genau funktionieren soll, sei noch unklar. - In den letzten Monaten sind Hinweise dafür vorgelegt worden, dass Krebsstammzellen nicht nur bei Leukämien vorkommen. Michael Clarke und sein Team von der University of Michigan konnten die Existenz einer solchen Krebsstammzelle bei Brustkrebs zeigen, auch wenn es noch nicht gelang, eine einzelne solche Zelle zu isolieren. Peter Dirks und seine Kollegen vom Kinderspital in Toronto haben Hinweise gefunden, dass auch bei Gehirntumoren Krebsstammzellen existieren. Diese sind dadurch charakterisiert, dass sie ein für Stammzellen des Blutes oder des Gehirns typisches Protein (CD133) auf ihrer Oberfläche tragen. Nur solche Zellen aus einem Gehirntumor seien in der Lage, in Mäusen identische Krebsgeschwülste zu bilden, berichtete Dirks in Titisee. Kürzlich wurde auch beim Prostatakarzinom eine Population von Tumorzellen mit den typischen Eigenschaften von Stammzellen gefunden.


Hoffnung auf gezieltere Behandlung

Noch weiss man allerdings sehr wenig über die verschiedenen Krebsstammzellen. So kennt man beispielsweise von keiner ein für sie charakteristisches genetisches Profil. Experten gehen davon aus, dass viele, wenn nicht sogar alle Tumorerkrankungen letztlich auf eine entartete Stammzelle zurückgehen. Allerdings schwankt die Anzahl solcher Krebsstammzellen in einer Geschwulst offenbar beträchtlich. Während bei einer Leukämie laut Dick schätzungsweise nur 1 von 100 000 entarteten Blutzellen eine solche Stammzelle ist, können es bei einem speziellen Gehirntumor, dem Glioblastom, bis zu 20 Prozent der Krebszellen sein. Dick vermutet, dass die Aggressivität eines Tumors mit der Anzahl Krebsstammzellen korreliert: Je mehr dieser bösartigen Stammzellen vorhanden sind, desto schneller wächst der Tumor und desto früher beginnt er zu metastasieren.

Trotz den noch vielen offenen Fragen sind die neuen Erkenntnisse nicht nur die Bestätigung einer jahrzehntealten Theorie, wonach Krebs als Stammzell-Krankheit zu verstehen ist, sondern sie bergen auch interessante Möglichkeiten für die Behandlung von Tumorleiden. Denn wie Dick erläuterte, sind bisher die meisten Antitumor-Substanzen danach ausgesucht worden, dass sie die grosse Masse der sich teilenden Tumorzellen zerstörten. Doch mit solchen Mitteln würden die Krebsstammzellen, die andere Eigenschaften als normale Tumorzellen besässen und bei denen andere Gene aktiv seien, nicht erwischt.


Wirkungsnachweis an den Stammzellen

So wirkt etwa auch Imatinib (Handelsname Glivec), ein neueres Medikament gegen eine Form der Leukämie, nur gegen die sich schnell und oft teilenden normalen Tumorzellen, wie Dick betonte, nicht aber gegen die Krebsstammzellen, die sich weniger oft teilen. Die Wahrscheinlichkeit für einen erneuten Ausbruch der Leukämie sei deshalb unter der Therapie mit diesem Medikament recht hoch. Und wie die Erfahrung in der Klinik zeige, erlitten auch viele Patienten mit anderen Tumorerkrankungen oft Jahre nach der ersten Therapie einen Rückfall. Für Dick sind die dafür verantwortlichen Zellen nicht irgendwelche Tumorzellen, die aus unbekannten Gründen die Attacke der Chemotherapie überleben. An dem Aufflammen der Erkrankung Monate oder Jahre später seien höchstwahrscheinlich immer Krebsstammzellen schuld, denen die gängigen Therapeutika nichts anhaben könnten.

Doch um gezielt auf die Krebsstammzellen abgestimmte Arzneimittel entwickeln zu können, müsse man diese Zellen erst noch genauer charakterisieren, waren sich in Titisee alle Experten einig. Denn nur wenn man wisse, welche Gene in den Tumorstammzellen aktiv seien und - damit verbunden - welche Proteine hergestellt würden, sei es möglich, spezifische Angriffsziele für die Therapie zu definieren. Zudem sollten die Testverfahren zur Evaluation von neuen Chemotherapeutika verändert werden, forderten die Wissenschafter. So müsse der Wirkungsnachweis künftig an isolierten Krebsstammzellen durchgeführt werden, um zu überprüfen, ob ein Medikamentenkandidat diese wichtige Zellart vernichten könne, ohne gleichzeitig die normalen Gewebestammzellen zu zerstören.

Weiterführende Literatur: Übersichtsartikel in Oncogene 23 (2004) und in Nature Reviews Cancer 5 (2005).

Quelle: Neue Zürcher Zeitung vom 09.11.2005

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