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Kämpfen will gelernt sein. Das gilt auch für die Abwehrtruppen des menschlichen Immunsystems. Früher sagte man, ein bisschen Dreck könne nicht schaden. Zugespitzt wird das in der sogenannten Hygiene-Hypothese: Stählt sich ein Kind früh an harmlosen Infektionen, so soll es später besser gegen ernsthafte Erkrankungen, bösartige Tumoren etwa, gefeit sein. Die Immunzellen sollen dann auch weniger zu überschießenden Reaktionen - wie bei Allergien - oder zu Angriffen gegen körpereigene Strukturen - wie bei Autoimmunkrankheiten - neigen. Impfkritiker stoßen mit der Auffassung, dass Reifung ohne Krisen nicht zu haben sei, ins gleiche Horn. Kinderkrankheiten "wegimpfen" heißt in diesem Konzept, das Kind um die Chance der Abhärtung gegen schlimmere Feinde zu bringen. Dass Waldorfkinder, die weniger geimpft sind, seltener an Allergien leiden, rundet die Plausibilität der inzwischen weit um sich greifenden, streng gefassten Hygiene-Hypothese ab. Diese führt entgleisende Immunmechanismen und Abwehrschwächen pauschal auf die Infektphobie zurück.

Das auf den ersten Blick attraktive, gesellschaftskritische Denkgebäude wird in jüngster Zeit jedoch Stück für Stück zerpflückt. Eine im "American Journal of Epidemiology" veröffentlichte kanadische Studie widerlegt vor allem die Vermutung, Infekte und Kinderkrankheiten verringerten das Leukämierisiko. Lange hieß es, wer als Baby durch ältere Geschwister oder in Krippen früh fremden Keimen ausgesetzt würde, erkranke später nicht so leicht an Leukämie oder anderen Krebsarten, etwa Lymphomen. Beim Vergleich von 399 leukämiekranken Kindern mit ebenso vielen gesunden fand sich keine Bestätigung für einen solchen Zusammenhang. Kinderkrankheiten wie Masern, Mumps, Röteln und Windpocken, aber auch banale Virusinfekte oder Mittelohrentzündungen härten die Kinder offenbar nicht ab. Unlängst hatte sogar Mel Greaves vom Institute of Cancer Research in London freimütig Risse im eigenen Konzept eingeräumt. Er gilt als Urheber der Idee, frühe Infektionen stählten Kinder gegen Leukämie.

Die kanadische Studie ergab zudem, dass die Impfung gegen Masern-Mumps-Röteln, wenn sie nach dem ersten Geburtstag erfolgte, das Leukämierisiko um die Hälfte verringerte. Auch Impfungen gegen Diphterie, Tetanus und Keuchhusten sowie gegen den Auslöser von Hirnhautentzündungen - das Bakterium Hämophilus influenzae - gingen mit einem verminderten Leukämierisiko einher. Wie Mary McBride und die anderen Forscher weiter berichten, scheinen die Impfungen gegen Tuberkulose und Pocken ebenfalls in dieser Richtung zu wirken. Sie halbieren offenbar das Risiko, am schwarzen Hautkrebs zu erkranken. Eine solche Impfung verlängert zudem die Überlebenszeit der operierten Melanompatienten. Was die Influenza-Impfung betrifft, so schützt diese anscheinend nicht nur vor einer Grippe, sondern auch vor den unterschiedlichsten Entartungen der Lymph- und Knochenmarkszellen. In diesem Fall geht es freilich nicht um Kinder, sondern um ältere Patienten.

In der Debatte um Allergien zeichnet sich ebenfalls eine Kehrtwende ab. Je mehr Infektionen Kinder durchmachten, desto größer war in späteren Jahren das Risiko für Asthmaleiden oder andere sogenannte atopische Erkrankungen wie Neurodermitis und Heuschnupfen. Das haben finnische Forscher in einer Untersuchung an fast 40 000 Kindern herausgefunden. Mitunter wird die These vertreten, Impfungen erhöhten das Allergierisiko. Eine deutsch-niederländische Studie an mehr als 500 Grundschülern ließ indes keinen Zusammenhang zwischen Impfstatus und Allergien erkennen. Eine schweizerische Untersuchung, in die mehr als 1500 Schüler einbezogen worden waren, führte zu dem Ergebnis, dass jene Kinder, die eine Masern- und Mumpserkrankung durchgemacht hatten, eher an Allergien litten als jene, die gegen diese Krankheiten geimpft worden waren.

Immer wieder taucht die Behauptung auf, seit mehr geimpft werde, habe die Zahl der Allergien zugenommen. Ein solcher zeitlicher Zusammenhang existiert aber nicht: In England nimmt zum Beispiel die Zahl der Allergien bei den nach 1985 geborenen Kinder nicht mehr zu, obwohl der Impfplan ist seitdem immer voller geworden ist. In der DDR wurde viel häufiger gegen Keuchhusten geimpft als in der Bundesrepublik. Dennoch litten die Kinder dort deutlich seltener an Allergien. Woher diese offenbar vorteilhaften Effekte der Impfungen auf das Immunsystem herrühren, ist freilich noch ungeklärt.

Selbstzerstörerische Neigungen der Abwehrzellen sind ebenfalls nicht schlicht als Folge mangelnder Feindberührung zu deuten. Sardinien weist die höchste Rate an Autoimmunerkrankungen in Europa auf und ist sicher keine keimfreie Region. Autoimmunkrankheiten wie Diabetes mellitus Typ 1 kommen nach neueren Erkenntnissen bei Kindern, die viele Infekte durchgemacht haben, sogar häufiger vor. Zudem neigen geimpfte Kinder nicht stärker zu dieser frühen Form der Zuckerkrankheit als nicht geimpfte. Yehuda Shoenfeld vom Zentrum für Autoimmunerkrankungen in Tel Hashomer (Israel) hat jetzt den überschätzten Nutzen von Infektionen zur Verhinderung von Autoimmunerkrankungen dokumentiert.

Die Hygiene-Hypothese sei "zu sauber, um wahr zu sein", wie ein Kritiker das ausdrückt. Was jedoch übrig bleibt nach der jüngsten Demontage, sind Beobachtungen über Schutzwirkungen von Parasiten, die evolutionär betrachtet eher als alte Bekannte denn als gefährliche Erreger gelten. So werden Wurminfektionen in mehreren Studien als Wegbereiter eines gut funktionierenden Immunsystems gehandelt. Zum anderen scheinen Laktobazillen und Bifidobakterien die Abwehr in richtige Bahnen zu lenken. Solche Kulturen können durch moderne Ernährungsgewohnheiten oder exzessive Verwendung von Antibiotika ungünstig beeinflusst werden. Das erklärt womöglich auch die niedrige Allergierate der Waldorf-Kinder: Ihre Eltern sind skeptisch gegenüber Antibiotika und achten auf eine gesunde Ernährung.

Quellen: F.A.Z., 26.03.2008, Nr. 71 / Seite N1
American Journal of Epidemiology, doi: 10.1093/aje/kwm339
Clinical Reviews in Allergy and Immunology, doi: 10.1007/s12016-007-8048-8).

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