Aktuelle Therapien haben CML für die meisten Patienten in eine chronische Krankheit verwandelt. Auch wenn die meisten Patienten gut ansprechen, so leiden doch einige von ihnen unter den Nebenwirkungen, wodurch sie jeden an ihre Krebserkrankung erinnert werden. Andere haben Probleme damit, ein Leben lang von Medikamenten abhängig zu sein. Außerdem steigt die finanzielle Belastung des Gesundheitssystems durch CML an, die durch die hervorragenden Überlebensraten und damit wachsende Zahl von CML-Patienten hervorgerufen wird. Unter diesem Blickwinkel erscheint die Möglichkeit, diese Therapien irgendwann abbrechen zu können und so eine therapiefreie Heilung zu erreichen, ein sehr  wünschenswertes Ziel. Zwei potentielle Wege zum Erreichen dieses Zieles wurden auf der dem EHA-Kongress 2011 diskutiert: "Operative Heilung" durch Abbrechen der TKI-Therapie nach Erreichen eines dauerhaften vollständigen molekularen Ansprechens (complete molecular response, CMR), und neue Ansätze, die restlichen Krebsstammzellen zu eliminieren.

 

Abbruch von Therapien: Unterschied bei TKIs der 2. Generation?

Seit der im Herbst 2010 veröffentlichten französischen STIM-(STop IMatinib)-Studie wurde über das Abbrechen der TKI-Therapie viel diskutiert. Um an dieser Studie teilnehmen zu können, mussten Patienten unter Imatinib wenigstens 2 Jahre lang in vollständiger molekularer Remission (PCR unter 0,01%) gewesen sein. Die Studie zeigte, dass in etwa zwei Drittel der Patienten einen raschen Rückfall erlebten, meistens gar innerhalb der ersten 6 Monate nach Abbruch der Therapie. Diejenigen mit Rückfall konnten jedoch wieder erfolgreich in die Behandlung zurückkehren und sprachen erneut auf das Medikament an. Das restliche Drittel der Patienten verblieb ohne weitere Behandlung in molekularer Remission.  Unter Imatinib jedoch blieb die Anzahl an "operativ geheilter" CML-Patienten bemerkenswert klein, da nur in etwa 10%-15% der Patienten unter Imatinib überhaupt jemals ein vollständiges molekulares Ansprechen (complete molecular response, CMR) erreichten, und davon ca. zwei Drittel einen Rückfall erlitten, sobald sie die Behandlung mit Imatinib absetzten.

Da jüngste Erstlinienstudien mit Dasatinib und Nilotinib zeigten, dass mit diesen Medikamenten ein größerer Teil der Patienten ein weitgehendes und vollständiges molekulares Ansprechen (major and complete molecular remissions) erzielten, begannen CML-Experten in Betracht zu ziehen, ob die neuen Medikamente damit auch den Anteil von "operativen Heilungen" erhöhen könnten, d.h. eine größere Zahl von Patienten, die sehr geringe Resterkrankung erreichen und die diese Remission beibehalten, wenn sie die Therapie abbrechen.

Zur weiteren Untersuchung dieser Frage begann eine französische Forschungsgruppe um Dr. Delphina Rea eine Studie an Patienten, die wenigstens die letzten 36 Monate mit Imatinib, Dasatinib oder Nilotinib behandelt worden waren, und die für wenigstens 24 Monate mit nicht-nachweisbarem BCR-ABL mit Nilotinib oder Dasatinib behandelt worden waren. Nach Eintritt in die Studie setzten 19 Patienten jegliche CML-Therapien ab, und wurden sodann in den ersten 12 Monaten durch eine monatliche PCR beobachtet. Zytogenetik (Knochenmark) und Mutationsanalyse wurden im Fall eines mindestens zehnfachen Anstiegs von BCR-ABL durchgeführt. Das Ziel der Studie war es, die Stabilität zumindest des weitgehenden molekularen Ansprechens (PCR <0,1%) zu den Zeitpunkten 6, 12, 18 und 24 Monate nach Beendigung der Therapie auszuwerten.

Auf der EHA-Konferenz 2011 präsentierte Dr. Rea nun erste Daten der 6-monatigen Nachsorgezeit, allerdings mit einer sehr kleinen Fallzahl: 14 Patienten waren zur Zeit des Berichts analysiert worden. 13 dieser Patienten hatten Dasatinib oder Nilotinib nach Imatinib erhalten, da sie Imatinib nicht vertrugen, und 1 Patient aufgrund von Resistenz gegen Imatinib.  9 Patienten erhielten Dasatinib, 5 Nilotinib. Von diesen 14 Patienten verloren nach Absetzen 4 Patienten ein weitgehendes molekulares Ansprechen nach einer Durchschnittszeit von 3 Monaten. 5 begannen erneut die Therapie mit Tyrosinkinasehemmern und erzielten erneut nicht-nachweisbares BCR-ABL. 9 Patienten verblieben bis auf den heutigen Tag (6-19 Monate lang) behandlungsfrei, wobei  BCR-ABL entweder nicht mehr nachweisbar oder zu sehr geringem Maße nachweisbar war. Zusammenfassend erläuterte Dr. Rea, dass, basierend darauf, was anhand solch einer kleinen Fallzahl überhaupt gesagt werden kann, die Behandlung mit Dasatinib und Nilotinib nach fehlgeschlagener Imatinib-Therapie (insbesondere bei Unverträglichkeit) bei Patienten mit stabiler nicht-nachweisbarer Restkrankheit potentiell unterbrochen werden kann. Zumindest setzte diese kleine Gruppe von Patienten ihre CML-Therapie insgesamt nicht aufs Spiel, da Rückfallpatienten nach Neuaufnahme der Therapie wieder zur Remission zurückkehrten.

Die Schritte zur Heilung von CML: Eliminieren von CML-Stammzellen

Neben diesen "operativen Heilungen" wird von Grundlagenforschern das Eliminieren der restlichen CML-Stammzellen, die von keinem der gegenwärtigen Medikamente wirklich erreicht werden und die für die Rückfälle nach Absetzen der Therapie verantwortlich sind, seit vielen Jahren umfassend diskutiert.

Auf der EHA-Konferenz 2011 präsentierte Dr. Holyoake einen Lagebericht über die gegenwärtige Stammzellforschung bei CML. Im Jahr 1999 identifizierte ihr Labor persistente CML-Stammzellen, und seitdem versuchen Forscher herauszufinden, warum eine kleine Anzahl an CML-Stammzellen trotz effektiver Hemmung der BCR-ABL durch Tyrosinkinasehemmer wie Imatinib, Dasatinib und Nilotinib in der Lage sind, zu überleben.

Frühere Studien haben ergeben, dass diese CML-Stammzellen im Schlafmodus (Ruhezustand) arretiert waren. Da die Mechanismen gegenwärtiger Tyrosinkinasehemmer-Medikamente auf die Signalübertragung während der Zellteilung angewiesen sind, waren diese schlafenden Zellen z.B. mit Imatinib nicht erreichbar.

Um diese Zusammenhänge weiter untersuchen zu können, isolierte das Team schlafende CML-Stammzellen, die keinerlei Mutationen aufwiesen, die für Resistenz gegen Imatinib, Dasatinib oder Nilotinib bekannt sind. Diese Zellen wurden 12 Tage lang im Reagenzglas gezüchtet, wobei sie extrem hohen Dosierungen von Dasatinib ausgesetzt wurden, die im menschlichen Körper nicht erreicht werden können. Das Team beobachtete, dass diese Zellen im "Wachstumsstillstand" selbst in solch einem hochdosierten Umfeld überleben konnten. Die Schlussfolgerung war, dass das Überleben dieser Stammzellen unabhängig von bekannten CML-Resistenzmechanismen und den üblichen BCR-ABL-Mechanismen zu sein scheint, die von den Tyrosinkinasehemmern gehemmt werden. Es müsse daher andere Überlebensmechanismen geben, die bis jetzt noch nicht völlig verstanden sind.
In ihrer EHA-Präsentation zeigte Dr. Holyoake das zunehmende Verständnis der Forscher über den biologischen Unterschied normaler Blutstammzellen und CML-Blutstammzellen auf. Dieses Verständnis ist nötig, um potentielle Therapiestrategien zu identifizieren, die sich diese Unterschiede zunutze machen. Eine ganze Reihe von Forschungsanstrengungen gehen momentan in die Richtung, um diese Wirkwege zu identifizieren und so zu manipulieren, dass diese "schlafenden" CML-Stammzellen zur Zellteilung gebracht werden, so dass sie von gegenwärtigen Tyrosinkinasehemmern in Angriff genommen und zerstört werden können.

Dr. Holyoake hob z.B. den FOXO-Transkriptionsfaktor, der eine signifikante Rolle bei Zellteilungsstillstand und Zelltod spielt, hervor. Interferon-Alpha hat gezeigt, dass es bei CML-Stammzellen wohl den Schlafmodus beenden kann, als auch spezifische Immunfunktionen gegen CML-Zellen aktiviert. Weitere Wirkwege, die gegenwärtig untersucht werden, sind z. B. Wnt, CXCR4, JAK2, Hedgehog, Histon, PP2A, SMO oder Autophagie. Einige davon werden bereits in frühen CML-Studien in Kombination mit  Imatinib untersucht, und einige sind aktuell noch im Labor-Forschungsstadium. Wirkstoffe in Erprobung sind z. B. Hydroxychloroquin (CHOICES-Versuch), der SMO-Inhibitor BMS-833923, das Asthma-Medikament Zileuton (5-Lipoxygenase, PP2A-Wirkweg) oder HDAC-Hemmer wie LBH589 oder LA0824.

Diskussion

Es gibt eine ganze Reihe von spannenden Ansätzen, die uns vielleicht zum ultimativen Ziel, nämlich der Heilung von CML, führen könnten. Ein "Abbruch der Therapie" scheint manchen Experten als realisierbarer Ansatz für diejenigen, die über längere Zeit bereits eine sehr geringe Restkrankheit aufwiesen. Forscher versuchen nun Faktoren zu identifizieren, die uns verraten könnten, welche Patienten die geringste Rückfallneigung haben, wenn sie die Therapie abbrechen - denn bisher weiss man noch nicht, warum der Rückfall nach Therapieabbruch trotz gleicher Ausgangsbasis bei manchen schnell auftritt und bei manchen gar nicht.

Da immer mehr CML-Patienten Dasatinib oder Nilotinib direkt nach der Diagnose erhalten, gepaart mit der Tatsache, dass diese Medikamente bei einem größeren Anteil von Patienten ein sehr gutes molekulares Ansprechen auslösen, könnte die Gruppe von Patienten, die sich für den Abbruch aller Therapien eignen, in naher Zukunft anwachsen lassen. Der Abbruch der CML-Therapie sollte jedoch angesichts der Rückfälle, die nach Absetzen schnell und kräftig aufgetreten sind, nicht außerhalb einer Studie geschehen. Eine weitere Veröffentlichung auf der diesjährigen EHA-Konferenz zeigte, dass die Zeit, die vom Zeitpunkt eines Rückfalls bis zum Neustart einer effektiven Therapie verstreicht, erheblichen Einfluss auf das spätere Ansprechen hat. Monatliche PCR in einem guten Labor sowie die Beobachtung durch einen CML-Experten scheinen beim Abbruch der Therapie von essentieller Bedeutung zu sein, um sich keiner Gefahr auszusetzen. Neue europäische Studien, die das Abbrechen von Therapien auswerten, z. B. die bald startende deutsche CML-5-Studie und die europaweite EuroSKI-Studie (SKI = Stop tyrosine Kinase Inhibitor), werden gegenwärtig für die  CML-Studiengruppen vorbereitet.

Das Eliminieren der restlichen CML-Stammzellen scheint jedoch der bedeutendste und systematischste Weg zur Heilung von CML zu sein, da dies die TKI-Therapie ergänzt, indem es "CML an der Wurzel ausrottet". Die Forschung arbeitet aktiv daran, CML von einer chronischen Krankheit in eine Krankheit der Vergangenheit zu verwandeln. Ein Großteil von der diskutierten Ansätze ist jedoch heute noch im Labormodus und ist noch immer weit entfernt von einer Anwendung bei Patienten in der klinischen Praxis. In theoretischer Hinsicht und im Laborversuch klingen sehr viele Ansätze immer recht vielversprechend, erweisen sich jedoch in der Praxis später als funktionsunfähig oder für den Menschen unverträglich. Für den heutigen CML-Patienten besteht daher starke Hoffnung, aber diese sind noch keine Therapieoption.

In diesem Sinne erläuterte Dr. Mahon im Rahmen der jüngsten weltweiten Konferenz für CML-Patientenvertreter "Neue Horizonte bei CML", dass der beste Weg, CML-Therapien irgendwann in der Zukunft absetzen zu können, die Disziplin ist, heute eine effektive CML- Therapie strikt einzuhalten und die Therapien wie verschrieben zu nehmen. Wenn CML-Patienten einmal den Status der minimalen Resterkrankung stabil erreicht haben, so sagen aktuelle Studien ganz unmissverständlich, so ist es sehr unwahrscheinlich, dass eine Resistenz, ein Rückfall oder eine Progression eintritt - unter der Voraussetzung, dass sie sich strikt an die eingeschlagene Therapie halten.

Mit der aktuellen Forschungsintensität arbeitet die Zeit arbeitet für die CML-Patienten von heute und morgen. In ein paar Jahren werden Patienten wahrscheinlich Therapieoptionen zur Verfügung stehen, CML und CML-Therapien endgültig aus ihrem Körper zu verbannen.

Jan Geissler , Leukämie-Online und CML Advocates Network, 16. Juni 2011
Laiensicht, ohne Gewähr auf Richtigkeit und Vollständigkeit.

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