Ärzte debattieren, ob sie Patienten mit Lymphomen und Leukämien wieder gesund machen können. Wie ist jedoch der von Pharmaunternehmen bezeichnete Durchbruch in der Leukämietherapie zu bewerten? Ein Artikel der Süddeutschen Zeitung beleuchtet einige Aspekte der aktuellen Diskussion der NHL- und CLL-Therapie in Fachkreisen.

Originaltext "An der Grenze zur Heilung" der Süddeutschen Zeitung vom 27.01.2004:

Vorsicht ist geboten, wenn Pharmafirmen und Mediziner das D-Wort benutzen. D wie Durchbruch. Was ist ein "Durchbruch" bei der Therapie einer bislang unheilbaren Krankheit? Reicht es, dass "signifikant mehr" Patienten auf eine neue Kombinationsbehandlung "ansprechen", dass das "krankheitsfreie Intervall" messbar zunimmt oder die Zahl entarteter Zellen sich halbiert?

Solche Fragen bewegen derzeit vermehrt die Hämatologen, jene Spezialisten also, die sich mit Krebserkrankungen des Lymphsystems und des Bluts befassen. Auf Fachkongressen wie in der vergangenen Woche auf Schloss Elmau oder kürzlich bei der American Society of Hematology (ASH) im kalifornischen San Diego scheint die Angst der Zuversicht zu weichen. Das Bedürfnis, die eigenen Erfolge zu verkünden, gewinnt ? besonders in der Pharmaindustrie ? die Oberhand gegenüber der Sorge, unberechtigte Hoffnungen zu wecken.

"Lymphome sind heilbar - Neue Therapie kann jährlich 1000 Menschenleben retten", verkündete beispielsweise das Unternehmen Hoffman-La Roche und meldete schon im Juni vergangenen Jahres den "Durchbruch" bei der Behandlung des aggressiven Non-Hodgkin-Lymphoms (NHL). Mit nur acht Infusionen des monoklonalen Antikörpers Rituximab könne der Anteil der "geheilten" Patienten bei dieser häufigen Form des Lymphdrüsenkrebs um rund die Hälfte gesteigert werden. Heilung wird hier allerdings gleichgesetzt damit, drei Jahre nach der Behandlung noch am Leben zu sein. In der Tat stagnierte die Wahrscheinlichkeit dafür ein Vierteljahrhundert lang bei etwa 33 Prozent. Erst als man zusätzlich zur Chemotherapie den Antikörper Rituximab gab, stieg der Anteil der Überlebenden nach drei Jahren auf 53 Prozent. Dies bestätigte auf der ASH-Tagung erneut der Leiter einer französischen Studie, Félix Reyes.

Fast ebenso häufig wie die "aggressive" Form des NHL sind so genannte indolente Lymphome mit langsamer Zellteilung und Verbreitung im Körper. "Beim indolenten Non-Hodgkin-Lymphom gibt es bisher kein etabliertes Verfahren, das eine Heilung verspricht", sagt Wolfgang Hiddemann, Direktor der medizinischen Klinik III am Klinikum der Universität München. Dennoch hätten deutsche Hämatologen hier ebenfalls einen "Meilenstein" gesetzt: In einer viel beachteten Studie mit 800 Patienten verbesserte wiederum Rituximab das krankheitsfreie Überleben nach drei Jahren auf 70 Prozent, gegenüber 40 Prozent bei Versuchsteilnehmern, die lediglich eine Chemotherapie erhalten hatten. Zum gleichen Zeitpunkt waren 95 Prozent derjenigen Probanden am Leben, die eine Kombinationsbehandlung bekommen hatten, aber "nur" 85 Prozent mit alleiniger Chemotherapie; viele hatten jedoch Symptome.

Noch ist offen, ob diese Zahlen eine "Heilung" bedeuten. "Dazu müssten die Lebenserwartung dieser Patienten ebenso groß sein wie die von nicht erkrankten Altersgenossen", versucht sich Hiddemann an einer Definition. Dies werde man allerdings erst in acht bis zehn Jahren beantworten können.

Neben der seit 18 Jahren von Hiddemann geleiteten German Low Grade Lymphoma Study Group haben sich hierzulande weitere Forschungsverbände zum aggressiven NHL sowie zum Hodgkin-Lymphom etabliert. Gemeinsam behandeln diese Netzwerke etwa ein Fünftel der deutschen Lymphompatienten im Rahmen klinischer Studien - ein Anteil, der viermal so groß ist wie bei anderen Krebserkrankungen.

"Das Wort Heilung überlasse ich den Ärzten", sagt Anita Waldmann, Vorsitzende der "Deutschen Leukämie- & Lymphom-Hilfe" und Mutter eines mit 27 Jahren an Blutkrebs verstorbenen Sohnes. Auf jeden Fall seien die Antikörper ein "Meilenstein" der Therapie, weil sie vergleichsweise wenig Nebenwirkungen verursachten. Jedoch müsse man bedenken, dass das indolente NHL eine Fülle unterschiedlicher Erkrankungen umfasst, darunter auch solche, bei denen sich Antikörper noch bewähren müssen.

Wo genau die Grenzlinie zwischen Fortschritt und Heilung verläuft, ist unter Experten umstritten, wie die Diskussion dieser Konzepte bei der Chronisch Lymphatischen Leukämie (CLL) verdeutlicht, dem häufigsten Blutkrebs in westlichen Ländern. Hier konnte man mit der bislang üblichen Chemotherapie ? etwa mit der Substanz Fludarabin ? bei einem Drittel der Betroffenen eine "vollständige Remission" erzielen. Dieses Kriterium galt als erfüllt, wenn die Patienten nach der Therapie keine Krankheitszeichen mehr aufwiesen, die Lymphknoten nicht tastbar waren und die Zahl der Blutzellen im Knochenmark sich innerhalb "normaler" Grenzwerte bewegte.

Mit den weitaus empfindlicheren Methoden der Molekularbiologie finden Ärzte fast immer entartete Zellen in Blut oder Rückenmark. Diese Patienten sind streng genommen nicht geheilt, auch wenn viele von ihnen fünf Jahre und länger keinerlei Beschwerden haben. Einige der neuesten Studien, die auf dem US-Hämatologenkongress präsentiert wurden, zielten deshalb nicht auf die Remission, sondern auf die vollständige Beseitigung der verbliebenen Krebszellen. Dies lässt sich im Gegensatz zur einfachen Chemotherapie offenbar mit dem Antikörper Alemtuzumab erreichen, betonten Experten auf einer Veranstaltung der Firma Schering, die diesen Antikörper in Deutschland vertreibt. Bei etwa der Hälfte von 58 Patienten, die bereits eine Chemotherapie hinter sich hatten, beseitigte Alemtuzumab nach spätestens acht Wochen die "minimale Resterkrankung", berichtete auf der ASH-Tagung Susan O?Brien von der Universität Texas.

"Wir hoffen, dass das einer Heilung gleichkommt", sagte die Hämatologin vorsichtig. Für Patienten, die an dieser Grenze stehen, könnten so genannte Radioantikörper einen noch größeren Anteil der Resterkrankung beseitigen. Mehr noch als von "nackten" Antikörpern wie Rituximab erhoffen sich viele Mediziner von diesen Präparaten, die als Anhängsel radioaktive Moleküle tragen. Als erster Radioantikörper in Europa wurde vergangene Woche Ibritumomab zugelassen, dessen Fracht aus Yttrium besteht. Statt den ganzen Körper zu bestrahlen, verbindet Ibritumomab sich mit den Blutzellen und setzt 90 Prozent seiner Strahlungsenergie in einem Umkreis von fünf Millimetern frei.

Das Mittel darf zwar erst eingesetzt werden, wenn andere Präparate nicht mehr wirken. Dennoch erwartet man binnen drei Jahren einen Spitzenumsatz von rund 50 Millionen Euro, verbreitete die Firma Schering gestern in einem Webcast aus London. Unterdessen hat Roche beantragt, Rituximab beim indolenten Lymphom nicht erst nach Rückfällen einsetzen zu dürfen, sondern in Kombination mit einer Chemotherapie schon für die Erstbehandlung der Patienten. Über 300 000 Kranken haben dieses Mittel bislang erhalten; mit einem Umsatz von jährlich rund zwei Milliarden Dollar hält Roche damit den Löwenanteil an diesem ständig wachsenden Markt.

Hans-Jochem Kolb, glaubt, dass ihm die Arbeit dennoch nicht ausgehen wird. Der Spezialist für Knochenmarkstransplantationen an Hiddemanns Klinik in München muss oftmals eingreifen, wenn alle anderen Therapien versagt haben. Auch Kolb hätte eine "Heilungschance von 80 bis 90 Prozent" zu bieten, wenn die Methode schon sehr früh zum Einsatz käme. Die restlichen zehn bis 20 Prozent allerdings würden für diesen radikalen Eingriff mit ihrem Leben bezahlen.

Quelle: Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 27.01.2004

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