Eine neue Studie belegt, dass die herkömmliche Diagnostik von akuter myeloischer Leukämie (AML) eine Reihe von aufschlussreichen Parametern unberücksichtigt lässt. Fortschritte der Diagnostik erhofft man sich auch von der Berücksichtigung genetischer Signaturen, die durch die Erfassung einzelner Gene mit neuer Technologie möglich geworden sind.

Die Versorgung von schwerkranken Patienten orientiert sich immer stärker an den individuellen Erfordernissen der Kranken. Dadurch sollen unnötige Belastungen der Betroffenen und der finanziellen Ressourcen vermieden werden. Fortschritte erhofft man sich vor allem von der Berücksichtigung genetischer "Signaturen", die durch die Erfassung einzelner Gene mit Genchips möglich geworden sind. Dass aber auch die Möglichkeiten der herkömmlichen Diagnostik noch nicht vollständig ausgeschöpft sind, belegen die Ergebnisse einer Analyse der deutschen Leukämie-Studiengruppe, die das Schicksal von mehr als 1400 Patienten verfolgt hat, die an akuter myeloischer Leukämie (AML) litten.

Es stellte sich heraus, dass neben dem Alter, Veränderungen an den Chromosomen, aber auch die Form der Leukämie, die Konzentration der Blutplättchen und des Hämoglobins sowie der Körpertemperatur, des Fibrinogens und des Enzyms Lactatdehydrogenase das Schicksal des Patienten erheblich beeinflussen. Von diesen Parametern hängt es entscheidend ab, ob es gelingt, die gestörte Blutbildung durch eine intensive Chemotherapie zu normalisieren und die Lebenszeit der Kranken zu verlängern.

Test der Risikoskala

Die von der deutschen Studiengruppe erarbeitete Risikoskala für die AML sollte Ärzten und Patienten die Entscheidung erleichtern, ob eine aggressive Chemotherapie mit ihren vielfältigen Nebenwirkungen zweckmäßig ist, oder eher eine besser verträgliche Form der Behandlung, die allerdings mit geringeren Heilungschancen einhergeht. Trotz der Risikoskala bleibt die Verantwortung für das individuelle Vorgehen letztlich in der Verantwortung der einzelnen Ärzten und Patienten. Sie müssen unter Berücksichtigung aller Faktoren schließlich weiterhin die Entscheidung treffen, welche Therapie sie für zweckmäßig und angemessen erachten.

Die Ergebnisse der deutschen Leukämie-Studiengruppe, die kürzlich in der Zeitschrift "Lancet" (Bd. 376, S. 2000) veröffentlicht wurden, haben international Beachtung gefunden. In die von der Deutschen Krebshilfe und der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziell unterstützte und von dem Münsteraner Hämatologen Thomas Büchner geleiteten Studie wurden rund 1400 über sechzig Jahre alte Patienten mit akuter myeloischer Leukämie einbezogen. Die dabei ermittelte Risikoskala wurde an einer weiteren 800 Patienten umfassenden Gruppe von Leukämiekranken überprüft und bestätigt. Obwohl 150 Kliniken an der Studie beteiligt waren, was einen erheblichen Aufwand für die Disziplinierung der einzelnen Zentren mit sich brachte, entsprachen die Behandlungsergebnisse dem internationalen Standard. Das zeuge von der "hohen Studienkultur" die in der Leukämieforschung inzwischen in Deutschland erreicht wurde, wie der Dresdener Hämatologe Gerhard Ehninger in einem Gespräch feststellte.

Äußere Faktoren

Bei der akuten myeloischen Leukämie handelt es sich um ein Leiden, das in vielerlei Varianten auftritt. Das Alter der Patienten ist zwar von erheblicher Bedeutung für den Ausgang der Behandlung, es spielen, wie die Erfahrung und die jüngste Studie gezeigt hat, aber noch andere Faktoren - vor allem genetische Veränderungen - eine wesentliche Rolle. Um diese ermitteln zu können, wird Zeit benötigt. Bei lebensbedrohlich erkrankten Patienten ist es daher nicht möglich, die Ergebnisse dieser aufwendigen Untersuchungen abzuwarten. Der sofort zu ermittelnde Risikograd ist daher eine wichtige Orientierungshilfe für Ärzte und Patienten. Am meisten dürften davon Kranke mit geringen Heilungschancen profitieren. Allerdings muss man berücksichtigen, dass in der deutschen Studie nur Patienten einbezogen wurden, die vollständig belastbar waren, da sie nicht an weiteren schweren Krankheiten litten, die eine durchgreifende Chemotherapie verhindert hätten.

Das Schicksal von Patienten mit AML hängt, wie ein Kommentar in "Lancet" zeigt, allerdings auch erheblich von äußeren Faktoren ab. Dazu gehören unter anderem die Entfernung zur behandelnden hämatologischen Institution sowie deren medizinische Fähigkeiten. Schließlich spielt die Einstellung des Arztes und dessen wissenschaftliches Interesse eine große Bedeutung. In diesem Zusammenhang kommt die Frage auf, ob sich so viele Institutionen - fünf Kliniken in München und acht Kliniken sogar in Berlin (davon drei an der Charité) - an der Versorgung von Patienten mit AML beteiligen müssen. Eine gewisse Konzentration auf eine geringere Zahl von Einrichtungen in jeder Stadt wäre auch für die Patienten sicherlich günstiger.

Quelle: Frankfurter Allgemeine FAZ.net vom 19.02.2011

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