Vom 8.-12. Dezember 2007 findet in Atlanta die Jahrestagung der Amerikanischen Gesellschaft für Hämatologie (ASH) statt. Die Tagung ist mit rund 20.000 Fachleuten aus über 100 Ländern die weltweit bedeutendste Veranstaltung im Umfeld von Therapie und Erforschung von Bluterkrankungen. Seit Jahren berichteten wir von interessanten Neuigkeiten und Forschungsergebnissen, die "auf ASH" vorgestellt werden – dieses Jahr durfte ich zum ersten Mal selbst vor Ort sein. Ein Live-Bericht.

Der Rest der Welt dürfte zum Nikolausfest weitgehend als hämatologenfrei gelten, versammelt sich doch die gesamte klinische Szene alljährlich zu dieser Zeit an einem einzigen Fleck. Dieses Jahr gelang es mir, mir die Zeit für eine Teilnahme auf ASH freizuhalten und zum ersten Mal die Leukämie-Experten selbst live zu sehen, deren Veröffentlichungen ich seit Jahren verfolge und deren Namen ich aus unzähligen Veröffentlichungen kenne. Seit langem habe ich dem entgegengefiebert – beispielsweise Dr. Druker, den "Vater" von Glivec, mal zu sehen, aber auch Dr. Goldman, Hochhaus, Kantarjian, Giles, Sawyers, Shah, Hughes, Guilhot, OBrien, Baccarani und viele andere. 

Die wichtigsten ASH-Publikationen zum Thema CML habe ich ja bereits die letzten Tage auf Leukämie-Online übersetzt und veröffentlicht (siehe unten die Linkliste), und ich möchte daher gerne in diesem Bericht eher auf die Randnotizen, die Stimmung und meine subjektiven Beobachtungen als auf die präsentierten medizinischen Fakten eingehen.

Die Stimmung


Beeindruckend war für mich die positive, gar enthusiastische Stimmung in der Gemeinschaft der CML-Experten. Imatinib/Glivec befindet sich nun im siebten Jahr des klinischen Einsatzes bei neu diagnostizierten CML-Patienten, und es gab in diesem ASH-Jahr für mich vier bedeutende Neuerungen: 
  1. Das Risiko, nach Erreichen einer zytogenetischen Remission in chronischer Phase eine Progression zu haben, ist in Jahr 6 auf Null-Komma-Null gesunken, d.h. wer molekular gut anspricht und dieses Ansprechen eine Weile erhält, wird die Remission voraussichtlich auch langfristig behalten dürfen.

  2. Seit diesem Jahr sind nun insgesamt drei neuartige Medikamente (Imatinib, Nilotinib, Dasatinib) für CML zugelassen, die geringe Kreuzintoleranzen und moderate Nebenwirkungen aufweisen, und die auch nacheinander eingesetzt werden können. Die Ära der Transplantation als Erstlinientherapieoption bei CML ist zu Ende.

  3. Die Forscher arbeiten mit Vollgas daran, die letzte Bastion, die T315I-Mutation, zu erforschen und letztlich zu knacken. Es sind hierfür verschiedene Medikamente in der klinischen Erprobung, darunter Bosutinib/SKI-606, Homoharringtonin/HHT, PHA-739358, AP24534, VX-680/MK-0457 und XL-228.

  4. Es wird nun offen über Möglichkeiten, auch die letzten schlafenden Stammzellen mit Interferon, Vakzinen oder anderen Kombinationen zu erwischen, diskutiert, um am Ende nur mit Medikamenten eine Heilung zu erreichen. Noch im letzten Jahr war Interferon ein Un-Thema, jetzt kehrte in vielen Diskussionen für die Erhaltungstherapie zurück.

Ich hatte die Gelegenheit, mit vielen Ärzten zu sprechen. Moshe Talpaz sagte mir beispielsweise, er rechne damit, dass "der nächste Schritt die Heilung" sein werde und daran massiv gearbeitet würde. Alleine schon weil es aufgrund der guten Überlebensdaten der CML-Medikamente im Jahr 2030 in den USA bis zu 250.000 CML-Patienten geben werde – unbezahlbar für das Gesundheitssystem – sei "Heilung" statt "Chronifizierung" der CML als Forschungsziel unerlässlich.

Für eine seltene Erkrankung wie CML sind all dies gute Nachrichten, vor allem in Hinsicht dessen, dass noch vor neun Jahren offen diskutiert wurde, ob man Glivec überhaupt bis zur Zulassung fertig entwickeln sollte. Wir drei CML-Patientenvertreter, Giora aus Israel, Cheryl-Anne aus Kanada und ich, nutzten daher die Gelegenheit eines 10-Minuten-Achtaugengesprächs, Dr. Brian Druker kennenzulernen und ihm zu danken, denn ohne seine Grundlagenarbeit wären wir heute nicht auf ASH – vermutlich wären wir gar nicht mehr hier.

Insgesamt war für mich beeindruckend, wie gut koordiniert die CML-Expertengemeinschaft vorgeht. Adelaide mit Mannheim, Bologna mit Aarhus, Houston mit Marburg, Portland mit Newcastle – die Forscher sind vernetzt und spielen sich die Bälle zu, es gibt verschiedene Meinungen und Ansätze, aber offensichtlich wenig unnötige Doppelarbeit und eine gute Verzahnung. Mir war das aus den im Internet sichtbaren Publikationen und der Geschwindigkeit, in der sich die CML-Therapie weiterentwickelt, zwar irgendwie klar, aber nie so klar vor meinen Augen wie hier.

Im Folgenden nun meine Mitschrift von einigen CML-Präsentationen auf der Konferenz.

CML-Weiterbildungs-Programm


Am Samstag fand das "CML-Weiterbildungsprogramm" für Ärzte statt, das die den Status Quo der CML-Therapie und der Verlaufskontrolle zusammenfasst. Zu den Präsentatoren gehörten Prof. Neil Shah von der Universität von Kalifornien in San Francisco, Dr. Susan Branford vom Institut für medizinische und veterinäre Wissenschaften in Adelaide, USA, sowie Dr. Jerald Radich vom Fred Hutchison Cancer Center.

Shah hob erneut die hervorragenden 6-Jahre-Daten von Imatinib hervor. Nach 60 Monaten seien nur 7% der in chronischer Phase behandelten Patienten verstorben, und 83% seien progressionsfrei. Die meisten Krankheitsfortschritte träten binnen der ersten zwei Therapiejahre auf und seien danach stark rückläufig, bis auf Null in Jahr 6. Auch daher sei die Stammzelltransplantation nicht mehr länger als Initialtherapie in chronischer Phase empfohlen, sondern nur noch bei fehlendem Ansprechen, vor allem bei Vorliegen einer T315I-Mutation, für die es im Moment kaum Therapiealternativen gibt. Auch im Falle der anderen Resistenzen sowie bei Unverträglichkeit ständen Kinasehemmer der zweiten Generation zur Verfügung – Dasatinib und Nilotinib als zugelassene, Bosutinib/SKI-606 und INNO-406 als in Erprobung befindliche Therapien. Vor diesem Hintergrund fanden auch erste Pilotstudien zum Einsatz von Dasatinib und Nilotinib als Erstlinientherapie direkt nach Diagnose statt: Alle 24 bzw alle 11 Patienten erreichten unter diesen Medikamenten jeweils eine komplette zytogenetische Remission, was für eine breitere Untersuchung dieses Ansatzes spreche.

Susan Branford ging auf die Empfehlungen eines Expertenpanels zur Verlaufskontrolle ein. Eine regelmäßige molekulare Verlaufskontrolle sei erforderlich, da sich aus einem aufeinanderfolgendem signifikantem Ansteigen der PCR wichtige prognostische Schussfolgerungen ableiten ließen, die dann durch Mutationsanalysen und zytogenetische Untersuchungen näher eingegrenzt werden könnten. Allerdings wies sie auf die fehlende Standardisierung der PCRs zwischen verschiedenen Laboren hin (aktuell 46 verschiedene Methoden in 18 Ländern), die eine unterschiedliche Interpretation, was ein "signifikanter Anstieg" der PCR sei, zuließen. Daher würden nun laborspezifische Umrechnungsfaktoren erstellt, um die PCR-Daten zwischen den Laboren vergleichbar zu machen. Bezüglich Resistenzen empfiehlt Branford die Durchführung von Mutationsanalysen bei Imatinib-Versagen, suboptimalem Ansprechen (kein CCyr nach 12 Monaten, keine PCR kleiner 0,1% nach 18 Monaten) oder bei PCR-Anstieg. Aus bisherigen Analysen sind 55 verschiedene BCR-ABL-Mutationen bekannt. Die häufigsten 10 Mutationen machen etwa zwei Drittel aller Mutationsfälle aus. Außer T315I sind alle Mutationen mit höherer Imatinib-Dosis, Dasatinib oder Nilotinib überwindbar. T315I ist die häufigste Mutation mit 13,8% aller Mutationen. Die frühzeitige Bestimmung der Mutation kann demnach entscheidend für die Wahl des weiteren Therapiewegs sein und sollte in problematischen Verläufen nun Teil der Verlaufskontrolle werden. 

Radich ging intensiv auf die Analyse der Biologie und Entwicklung der CML-Blastenkrise ein – was sie ist, warum sie sich entwickelt und wie man ihre Entstehung verhindern könne. Hierzu ging er auf die genetische Instabilität ein, die durch das Vorhandensein des BCR-ABL-Proteins ausgelöst wird und die in Folge Zellteilung, Zelldifferenzierung, Zelltod (Apoptose) und Tumorsuppression bzw Zellreparaturmechanismen beeinflusst. Seine Ergebnisse belegen, dass das Vorhandensein von BCR-ABL die Entstehung weiterer genetischer Schäden fördert, die bei Blastenkrise typisch sind. Daher sei eine schnellstmögliche BCR-ABL-Hemmung zur Vermeidung der Entstehung weiterer Mutationen und damit einer Blastenkrise essentiell. Die Therapieoptionen bei Blastenkrise seien weiterhin sehr schlecht – die Überlebensraten nach Transplantation liegt nach einem Jahr nur bei rund 20%, das Ansprechen z. B. auf Tyrosinkinase-Hemmer ist meist aber auch nur von kurzer Dauer. Allerdings seien die Überlebensraten deutlich besser, wenn die Transplantation in zytogenetischer Remission (z.B. durch Imatinib) statt unter hoher Tumorlast erfolgt.

Neuigkeiten aus den Studien


Am Sonntag und Montag wurden die aktuellen Erkenntnisse der Therapie bei neu diagnostizierter CML vorgestellt. Diese im Detail zu beschreiben würde den Rahmen hier – und auch mein Zeitbudget – sprengen, daher nur eine kleine Übersicht.

Prof. Hochhaus (Mannheim) stellte die 6-Jahres-Daten der IRIS-Studie (Imatinib vs. Interferon-Alpha) vor. Er berichtete, dass 88% der in chronischer Phase mit Imatinib behandelten Patienten nach 6 Jahren noch am Leben sind. Weniger als 5% der Todesfälle seien auf die CML zurückzuführen. Damit sei die Imatinib- Therapie allen anderen CML-Therapien überlegen. 82% der Imatinib-Patienten haben eine komplette zytogenetische Remission erreicht, aber nur 12% der IFN+AraC-Patienten. Das Ansprechen sei dauerhaft und der Anteil der Progressionsfälle sinkt von Jahr zu Jahr. Im sechsten Jahr gab von den in chronischer Phase behandelten Patienten keinen einzigen Progressionsfall mehr. Es wurden in der Langzeitbeobachtung keine neuen Sicherheitsrisiken gefunden. Die meisten schwereren Nebenwirkungen (Grad 3-4) traten zu Beginn der Therapie auf und wurden über die Zeit weniger. In den 2309 beobachteten Patientenjahren unter Imatinib gab es nur 7 Berichte über Herzprobleme, davon ist ein Fall auf die CML-Therapie zurückzuführen. Herzprobleme treten unter Imatinib nicht häufiger als unter Interferon auf – Patienten mit früheren Herzerkrankungen sollten jedoch beobachtet werden.

Francois Guilhot (Poitiers, France) analysierte die Daten derjenigen, die innerhalb der IRIS-Studie eine komplette zytogenetische Remission erreicht hatten, und prüfte dabei, inwiefern die Geschwindigkeit des Ansprechens das Ergebnis beeinflusst. 88% erreichten eine komplette zytogenetische Remission in weniger als 18 Monaten, mehr als die Hälfte sogar binnen 6 Monaten. Allerdings konnte bezüglich der Geschwindigkeit des Ansprechens kein Unterschied bezüglich Gesamtüberleben, Progressionsfreiheit oder Dauerhaftigkeit der Remission festgestellt werden: auch von denen, die in über 18 Monaten komplette zytogenetische Remission erreichten, sind im Jahr 6 noch 98% am Leben. Ganz klar schlechter seien die Aussichten derjenigen, die überhaupt keine komplette zytogenetische Remission erreichen. Zusammenfassend sei zu sagen, dass eine komplette zytogenetische Remission, egal wie schnell sie erreicht würde, sei mit exzellenten Aussichten verbunden – ein spätes Erreichen hätte keinerlei nachteiligen Einfluss. Ein Nichterreichen sei jedoch prognostisch schlecht.

Prof. Hochhaus stellte die Ergebnisse einer Pilotstudie mit 25 Patienten vor, die Interferon-Alpha2a (Pegasys) als Erhaltungstherapie nach Erreichung einer kompletten zytogenetischen Remission unter Imatinib erhielten (einer dieser 25 Patienten bin ja ich). Dazu hatten die Patienten, die seit langem die Kombination Imatinib + IFN erhielten und in niedriger molekularer Remission waren, Imatinib abgesetzt und nur mit IFN fortgefahren. Einige Patienten zeigten direkt nach dem Imatinib-Absetzen ein kurzfristiges Ansteigen der PCR, die aber in den Folgewochen wieder auf eine weitgehende molekulare Remission (unter 0,1% PCR). Insgesamt verbesserte sich bei 2 Patienten das Ergebnis gegenüber dem Status vor dem Absetzen von Imatinib, 13 hielten ihre stabile molekulare Remission auch mit IFN bei, und 5 zeigten ein graduelles Ansteigen der PCR-Werte und begannen wieder mit Imatinib.

Weiterhin gab es spannende Präsentationen von Cortes zu den Ergebnissen mit Dasatinib, von Soverini, Hughes und de Lavallade zu Mutationen und deren Auswirkungen, von Hughes und le Coutre zu Nilotinib, von Shah zu XL228, von Kantarjian zu INNO-406, von Gambacorti-Passerini zu Bosutinib/SKI-606 – insgesamt zu viel, um es hier im Detail wiederzugeben, aber hochspannend und allesamt positiv für die Fortentwicklung der CML-Therapie.

Schlussfolgerungen


Zusammenfassend wage ich zu interpretieren: Die Ergebnisse und Aussichten mit Imatinib/Glivec, Dasatinib/Sprycel und Nilotinib/Tasigna sind hervorragend, die Langzeitdaten werden immer besser, es gibt keine großen Überraschungen bzgl Nebenwirkungen, Immuntherapien mit potentieller Heilung sind in Disussion, und ein gutes Dutzend Wirkstoffe gegen Resistenzen sind in der "Pipeline" in klinischer Erprobung. Die CML-Experten weltweit sind sehr aktiv, gut vernetzt, und zeigen in allen Bereichen gute Fortschritte.

Ich fliege morgen mit einem sehr guten Gefühl nach Hause, wirklich alt werden zu dürfen.

Alles Gute Euch allen, und Frohe Weihnachtstage,
Jan



Ausgewählte Übersetzungen von ASH 2007-Publikationen auf Leukämie-Online


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