Mit Imatinib, Nilotinib, Dasatinib, Bosutinib und Ponatinib sind mehrere Tyrosinkinasehemmer für die Behandlung der chronischen-myeloischen Leukämie (CML) zugelassen. Über die neueren Medikamente gab es in den vergangenen Monaten einige wissenschaftliche Veröffentlichungen zu Herz-Kreislaufkomplikationen. Hierzu diskutiert die medizinische Fachwelt im Moment Fragen im Zusammenhang mit den biologischen Zusammenhängen sowie diagnostischen Überwachungsmethoden möglicher Herz-Kreislaufkomplikationen neuer Krebstherapien. Ziel ist, Strategien zur Verringerung oder den Ausschluss der Risiken von Herz-Kreislaufkomplikationen zu entwickeln. Ein Fachartikel im "New England Journal of Medicine" fasst die aktuellen Überlegungen hierzu zusammen.

Übersetzung des Artikels aus dem "New England Journal of Medicine" vom 1. November 2013 - ohne Gewähr auf Richtigkeit und Vollständigkeit


 

Neue Krebstherapien und die Überwachung des Herz-Kreislaufsystemes

BCR-ABL-Proteinkinasehemmer haben die Behandlung der chronisch-myeloischen Leukämie (CML) revolutioniert und damit die Hemmung von Tyrosinkinasen als generelles Modell für die Entdeckung von Krebsmedikamenten etabliert. Im Jahr 2001 wurde Imatinib als erster Tyrosinkinasehemmer von der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA zugelassen. Als Teil einer Serie von Verbindungen, die den Blutplättchen-Wachstumsfaktor(PDGF)-Rezeptor hemmen, konnte erstmals für Imatinib gezeigt werden, dass Imatinib auch eine potentielle Wirkung gegen ABL- und KIT-Kinasen zeigt. Trotz des erfolgreichen Durchbruchs für Imatinib sind mehr als 20% der Patienten gegen das Medikament resistent. Deshalb wurden Inhibitoren der zweiten und dritten Generation - Dasatinib, Nilotinib, Bosutinib und Ponatinib entwickelt, um diese Resistenzen zu überwinden. Unter diesen neueren Medikamenten ragt Ponatinib als einziger gegen die "Torwächter"-Mutation T315I aktiver Hemmer hervor. Diese BCR-ABL-Mutation, bei der Threonin durch Isoleucin in der Position 315 ausgetauscht ist, verhindert die Wirkung anderer Tyrosinkinasehemmer und tritt bei etwa 20% der Patienten mit CML, die eine Progression der Erkrankung während der Behandlung mit anderen Medikamenten erleiden, auf.

Die neueren Tyrosinkinasehemmer werden zunehmend als Erstlinientherapie für die CML betrachtet, weil sie im Vergleich mit Imatinib nachweislich schnelleres molekulares Ansprechen ergeben.  Die randomisierte vergleichende Studie von Ponatinib gegenüber Imatinib an neu diagnostizierten CML-Patienten (EPIC-Studie, ClinicalTrials.gov-Nummer NCT01650805) sollte untersuchen, ob Ponatinib auch besseres molekulares Ansprechen ergebe als Imatinib. Obwohl es keine Langzeit-Daten gibt, die nahelegen, dass die Erstlinientherapie mit den neueren Medikamenten einen Überlebensvorteil ergeben, gibt es zunehmenden Druck, diese Medikamente als Erstlinientherapie einzusetzen. Man geht davon aus, dass diese potenteren BCR-ABL-Hemmer zu einem verbesserten, "tieferen" molekularen Ansprechen und damit zu nachhaltigeren Remissionen führen. Deshalb ist diese jüngste Evolution der Inbegriff der Labor-zum Krankenbettuntersuchung und wahrscheinlich die ultimative Erfolgsgeschichte der Onkologie.

Am 8. Oktober 2013 erfuhr diese Geschichte eine unerwartete Wendung. Ariad Pharamceuticals, der Hersteller von Ponatinib, kündigte wesentliche Änderungen an seinem klinischen Entwicklungsprogramm an. Die Ankündigung erfolgte nach einer Analyse der in einer Studie mit Ponatinib an Patienten, die als gegenüber Dasatinib oder Nilotinib resistent oder intolerant oder als Träger der T315I-Mutation identifiziert wurden, der PACE-Studie (NCT01207440).  Während einer Beobachtungsdauer von 24 Monaten erlitten 11.8% der Patienten gefährliche arterielle Thrombosen. Nach Beratung mit der FDA veranlasste die Firma einen Rekrutierungsstop für die Studien mit Ponatinib. Die FDA kündigte anschliessend eine Untersuchung zur Häufigkeit von "ernsten und lebensbedrohlichen Blutgerinnseln und schweren Verengungen von Blutgefässen an. Am 9. Oktober brach der Börsenkurs von Ariad ein.  Am 18. Oktober kündigte die Firma an, die EPIC-Studie im Interesse der Patientensicherheit abzubrechen. Diese mit Ponatinib in Verbindung stehenden Vorkommnisse folgten auf zahlreiche, in letzter Zeit erschienene Berichte über periphere Gefässkomplikationen und beschleunigter Arteriosklerose bei Patienten, die mit Nilotinib behandelt wurden. Im Licht dieser Erkenntnisse werden jetzt grössere Bedenken bezüglich Herz-Kreislaufkomplikationen der neueren ABL-Kinasehemmer geäussert, besonders, weil diese Medikamente immer mehr als Erstlinientherapie bei CML eingesetzt werden.

Nach den neuesten Vorkommnissen liegen der medizinischen "Community" mehr Fragen als Antworten vor. Viele dieser Fragen hängen mit den Überwachungsmethoden der Herz-Kreislaufkomplikationen mit neuen Krebstherapien und der Art, wie diese Komplikationen  bei onkologischen Studien bewertet werden, zusammen. Die offiziellen Verlautbarungen zu diese Komplikationen lassen Details zur Art der von Ponatinib verursachten Gefäßnebenwirkungen vermissen. Sind diese Vorkommnisse auf rapide fortschreitende Arteriosklerose, arterielle Thrombosen, arterielle Embolien oder einen anderern Gefässvorgang, wie z.B. Vasospasmen, zurückzuführen?

Die genaue Definition der Art von Nebenwirkungen ist für die Entwicklung von Strategien zur Verringerung oder den Ausschluss der Risiken von Herz-Kreislaufkomplikationen entscheidend, sodass die Wirkung von Ponatinib gegen Krebs ausgebeutet werden kann. Eine wichtige Bemerkung ist, dass diese Herz-Kreislaufkomplikationen an Patienten bemerkt wurden, bei denen ein Fortschreiten der Erkrankung während der Behandlung mit anderen Tyrosinkinasehemmern festgestellt wurde- einer neuidentifizierten Subgruppe von CML-Patienten. Das zugrundeliegende Herz-Kreislaufrisiko dieser Patienten ist unbekannt. Die Kriterien des National Cancer Institute zur Benennung von Nebenwirkungen (National Cancer Institute Common Criteria for Adverse Events) wurden zur Standardisierung der Berichterstattung über Nebenwirkungen innerhalb onkologischer klinischer Studien entwickelt. Wie sich herausstellte, unterscheiden sich diese Kriterien bei Untersuchungen von Krebsmedikamenten markant von denen bei Untersuchungen mit Herz-Kreislaufmedikamenten. Diese Diskrepanzen kompromittieren die Erkennung der Kardiotoxizität und begrenzen die Vergleichbarkeit der Sicherheitsdaten zwischen den klinischen Studien. Neben einer einfachen Revision der Definitionen zur Identifikation und Einstufung der Schwere von Herz-Kreislaufnebenwirkungen könnte eine umfassende "Rechtssprechung" durch Nebenwirkungskommitees notwendig sein, um verlässliche und konsistente Daten bei Krebsstudien zu sammeln. Mit dem sich vergrösserndem Arsenal der Krebstherapien mit Potential der Kardiotoxizität müssen die Behörden in Onkologie und Herz-Kreislaufthemen zusammenarbeiten, um die besten Strategien für optimale Berichterstattung über Herz-Kreislaufkomplikationen zu bestimmen.

Die Doppeldeutigkeit, die sich aus dem heutigen Berichtssystem ergibt, wird durch den Fall des Carfilzumib, einem neuen Proteasomhemmer, veranschaulicht, für den eine beschleunigte Zulassung für die Behandlung bestimmter Patienten mit Multiplem Myelom durch die FDA bewilligt wurde.  Auf Basis der durch das heutige Berichtssystem gesammelter Daten kündigte die FDA "mehrere Todesfälle durch Herzkomplikationen, die innerhalb von Stunden oder weniger Tage nach der Gabe von Carfilzomib" auftraten. Diese Bekanntmachung liess die behandelnden Ärzte ratlos über die Art der Todesfälle "wegen Herzkomplikationen" und über mögliche Strategien zur Verhinderung dieser Komplikationen. Diese Abwägungen sind bedeutend, besonders, weil Carfilzomib als Erstlinientherapie gegen Multiple Myelome geprüft wird.

Ein verbessertes Verständnis, wie die "gezielten" Krebstherapien zu Herz-Kreislaufkomplikationen führen, könnte schliesslich zu biologischem Verständnis der Pathophysiologie von Herz-Kreislauferkrankungen führen und im Gegenzug neue Plattformen zur Entdeckung neuer Herz-Kreislaufmedikamente ermöglichen. Ob die Gefässnebenwirkungen von Ponatinib - und möglicherweise Nilotinib- durch die erwünschte ABL-Kinasehemmung oder durch die daneben stattfindende Hemmung anderer Nicht-ABL-Kinasen, wie dem "Vascular Endothelial Growth Factor Receptor 2", muss noch herausgefunden werden. Wenn diese Komplikationen allerdings auf ABL-Kinaseabhängige, schnell fortschreitende arteriosklerotische Prozesse zurückzuführend sind, würde das auf eine bisher unterschätzte Rolle der ABL-Kinase bei peripheren arteriellen Erkrankungen hinweisen. Wenn diese Komplikationen andererseits als arterielle Thrombosen charakterisiert werden, würde das auf eine mögliche Rolle von ABL in der Biologie der Blutplättchen hindeuten. In beiden Fällen könnte die therapeutische Manipulation der ABL-Kinase neue Behandlungswege für Herz-Kreislauferkrankungen ergeben.

Tortz allen potentiellen Nutzens verbesserter Herzkreislaufüberwachungen muss sich das nächste Kapitel der CML-Geschichte erst öffnen. Zusätzlich zur Beachtung möglicher toxischer Wirkungen müssen auch die finanziellen Kosten der Wahl eines bestimmten BCR-ABL-Hemmers für die Erstlinientherapie abgewogen werden. Wirtschaftliche Anreize für den Einsatz neuerer Tyrosinkinasehemmer dürfen nicht übersehen werden. Das Patent auf Imatinib wird in den USA 2015 und in Europa 2016 auslaufen, und damit die derzeit ausserordentlich hohen Kosten reduzieren (geschätzt 92.000 US$ pro Jahr in den USA). Andererseits bewerben sich neuere patentgeschützte Medikamente im Wettbewerb mit Imatinib um die lukrativen Positionen in der Erstlinientherapie der CML. Sawyers fragte 2010, ob Imatinib von der Behandlung der CML "pensioniert" werden könne und "in der Geschichte der Onkologie für immer bewahrt" werden könne. In den nächsten Jahren könnten Imatinib-Generika, mit einem vergleichsweise günstigem Sicherheitsprofil im Herz-Kreislaufbereich, sehr wohl die Position als Erstlinientherapie der CML halten, wobei die neueren Wirkstoffe für Fälle von Resistenzen gegenüber Imatinib reserviert blieben.

Quelle: Cancer-Drug Discovery and Cardiovascular Surveillance, John D. Groarke, M.B., B.Ch., Susan Cheng, M.D., M.P.H., and Javid Moslehi, M.D. NEW ENGLAND JOURNAL OF MEDICINE, 1. November 2013, DOI: 10.1056/NEJMp1313140. Übersetzung durch NL, ohne Gewähr auf Richtigkeit und Vollständigkeit

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Jonathan
Ich möchte mich auch für den Artikel bedanken. Die nun aufkommende Diskussion werde ich sehr aufmerksam verfolgen, denn als Nilotinib-Patient mache ich mir schon auch ein wenig Sorgen. Vor Therapiebeginn war genau die längere Erfahrung mit Imatinib auch ein wichtiges Argument gewesen, auch wenn die Entscheidung dann für das "potentere" Mittel ausging, das jetzt in der TIGER-Studie sowieso gesetzt ist und hoffentlich nur für einen überschauba ren Zeitraum nötig ist.
Ein bisschen merkwürdig finde ich, wie hier die medizinische Diskussion mit den Kosten vermischt wird. Die spielen natürlich auch eine Rolle, aber haben nun mit den Herz-Kreislauf-Nebenwirkungen nichts zu tun!

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Stephan Schmidt
Danke..
... für diesen Artikel!
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