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dsc09097Auf der 54. Jahrestagung der amerikanischen Gesellschaft für Hämatologie (ASH 2012) wurden 159 Forschungsergebnisse aus klinischen Studien zur CML präsentiert: 36 in mündlichen Präsentationen und 123 auf Postern. Wir fassen in einer subjektiven Auswahl die wichtigsten Neuigkeiten zur CML-Erstlinientherapie, zum 10% BCR-ABL-Therapiemeilenstein, zur "tiefen molekularen Remission" als Voraussetzung für einen möglichen Therapiestopp sowie zu Interferon-Kombistudien zusammen.

1 Etablierte und neue CML-Therapien   
2 Die entscheidenden ersten drei Monate nach Diagnose: Die 10%-Regel   
3 Das Wettrennen zur "Tiefen Molekularen Remission"   
4 STOP oder nicht STOP?   
5 Interferon - Altlast oder das i-Tüpfelchen?   
6 Warum das vermutlich nicht mein letzter ASH-Besuch war   

Etablierte und neue CML-Therapien

Noch vor wenigen Jahren war die Therapie der CML in chronischer Phase relativ klar: Das 2001/2002 für CML zugelassene Imatinib, wenn nicht transplantiert werden sollte. 2006 folgte Dasatinib und 2007 Nilotinib für die Therapie nach Imatinib-Versagen, und 2010 wurden beide Medikamente auch für die Erstlinientherapie zugelassen, so dass diese mit 7-8 Jahren Einsatz im Menschen mittlerweile als "etablierte" und gut einschätzbare Therapien gelten. Im Jahr 2013 folgen voraussichtlich die Zulassungen von Bosutinib und Ponatinib für die Zweitlinie (d.h. nach Versagen von Imatinib, Dasatinib oder Nilotinib). Eine ASH-Präsentation überraschte mit dem bis dato unbekannten Radotinib (IY5511), einem weiteren Tyrosinkinasehemmer für CML von Il-Yang Pharma in Korea. Im Jahr 2016 läuft das Wirkstoffpatent für Imatinib in Westeuropa aus, und Generikahersteller sind schon in Startposition. Viele Studien, z.B. zur Verbesserung des Ansprechens, zur Voraussage des späteren Therapieerfolgs, zu Therapiestopps in Vollremission und zum besseren Verständnis der übrigbleibenden CML-Stammzellen, laufen momentan oder sind in Vorbereitung. Man muss schon ein CML-Experte (oder bei diesem in Behandlung) sein, um die relevanten Optionen in Erwägung ziehen zu können. Viele dieser Experten waren auf dem ASH-Kongress, haben neue Ergebnisse vorgestellt und Optionen offen diskutiert.

Auf ASH 2012 gab es verschiedene Updates zu den Medikamenten Dasatinib (Abstract #1675, DASISION-Studie), Nilotinib (ENESTnd, Präsentation #167, Poster #1676) und Bosutinib (BELA, Präsentation #69, Poster #3779, 3785, 2793, 2798), die alle nach dem Motto "no news is good news" weiterhin hervorragende Ansprechraten ohne größere negative Überraschungen zeigten. Diese Zweitgenerationsmedikamente bauen ihren Vorsprung gegenüber Imatinib weiter aus: der Anteil der Patienten, die ein Ansprechen auf dem Niveau von MMR (BCR-ABL <0,1%), MR4 (<0,01%) oder MR4.5 (<0,0032%) erreichen, ist unter diesen deutlich höher: Für Nilotinib wurden von Prof. Andreas Hochhaus auf ASH die 4-Jahres-Daten der ENESTnd-Erstlinienstudie gezeigt, an der 846 neu diagnostizierte CML-Patienten in 35 Ländern teilnahmen. Nach 4 Jahren erreichten 56% der Patienten mit 2x300mg Nilotinib eine MR4, unter Imatinib nur 32%. Der Vorsprung des Nilotinib-Ansprechens gegenüber Imatinib hatte sich gegenüber den 1-Jahres-Daten noch vergrößert (von 14% auf 24%). In der Dasatinib-Studie DASISION, von der es bisher nur die 3-Jahres-Daten gibt, erreichten 35% der Dasatinib-Patienten und 22% der Imatinib-Patienten eine MR4.

Wenn man nur das "nackte Überleben" ansieht, ist dies für alle Patienten, die nach 3 Monaten die 10%-Marke BCR-ABL unterschreiten und dann eine gute molekulare Remission erreichen, langfristig nahe dem der Normalbevölkerung  - egal, ob sie dies unter Imatinib, Nilotinib oder Dasatinib erreichten. In 4 Jahren starben unter Nilotinib nur 4 von 281 Patienten an CML, unter Imatinib 13 von 283.

Es gibt aber leider weiterhin Patienten, die diesen 10%-Meilenstein nicht erreichen, die Resistenzen entwickeln, oder die Medikamente nur unzureichend vertragen. Selbst mit stärksten Medikamenten wie Ponatinib sind die Überlebensraten in Blastenkrise bedrückend (ASH-Präsentation #915), und daher ist alle Aufmerksamkeit darauf gerichtet, der CML niemals die Chance auf einen Krankheitsfortschritt zu geben.

Die Progressionsraten sind unter Dasatinib, Nilotinib und Bosutinib deutlich geringer als unter Imatinib, daher "schützen" die Zweitgenerationsmedikamente rund 3% der CML-Patienten vor Krankheitsfortschritt. Experten raten daher eigentlich durch die Bank zum Einsatz der Zweitgenerationsmedikamente Nilotinib oder Dasatinib als Ersttherapie nach Diagnosestellung, sowie zur frühzeitigem Wechsel bei "Warnsignalen" wie z.B. suboptimalem Ansprechen. Die auf dem ASH-Kongress gezeigten Daten zeigen erneut, wie wichtig eine gezielte Betreuung durch einen erfahrenen CML-Experten ist, der diese Studiendaten und die "Warnsignale" (er)kennt.

Ob man nun Nilotinib oder Dasatinib (oder ggf. Imatinib) als Erstlinientherapie wählt, hängt in zunehmenden Maße weniger von der statistischen Wirksamkeit des Medikaments (die bei Dasatinib und Nilotinib sehr dicht beieinander liegen), sondern von den individuellen Eigenschaften des jeweiligen Patienten ab. David Marin rief auf ASH die Pros und Cons der zugelassenen Medikamente in Erinnerung: Imatinib ist das etwas günstigere, seit über 10 Jahren gut bekannte Medikament mit einmal täglicher Einnahme, zeigt aber langsameres Ansprechen als alle seine "Nachfolger".

Nilotinib wirkt stärker und wird als noch besser verträglich als Imatinib beschrieben, benötigt aber mehr Aufmerksamkeit bei Patienten mit Diabetes (ASH-Abstract #3756) oder Patienten mit gleichzeitig mehreren Gefäß-Risikofaktoren (Rauchen, Bluthochdruck, Diabetes, Fettleibigkeit, Fettstoffwechselstörung, ASH-Präsentation #914). Manche Patienten haben auch Schwierigkeiten mit der Therapietreue oder Lebensqualität aufgrund der zweimal täglichen Nilotinib-Einnahme, verbunden mit Fastenzeiten. Dasatinib wird dagegen von der Nahrungsaufnahme nicht beeinflusst und ist als stärkstes zugelassenes Medikament auch die Therapie der Wahl bei fortgeschrittener CML, erzeugt aber häufiger Flüssigkeitsansammlungen zwischen Lunge und Rippen (Pleuraergüsse) (ASH-Poster #3770) und möglicherweise pulmonalarteriellen Bluthochdruck.

Das kürzlich in den USA, aber noch nicht Europa zugelassene Medikament Bosutinib ist ebenfalls hochwirksam, führt aber bei vielen Patienten zu Beginn zu (allerdings gut behandelbaren) Durchfällen.

Viele CML-Patienten sind bei Diagnosestellung in einer Altersgruppe, die oftmals Zweiterkrankungen aufweist. Die Auswahl einer Therapie muss die individuelle Situation des Patienten berücksichtigen - nicht nur die Tatsache, dass er/sie CML hat. Alle unterschiedlichen Eigenschaften der jeweiligen Arzneimittel, neben Status der CML, Zweiterkrankungen und Psyche, ist durch den erfahrenen Arzt bei der Therapiewahl im Einzelfall abzuwägen. Es gibt keine allgemeingültige Empfehlung für alle Patienten.

Keines der genannten Medikamente wirkt allerdings bei Vorhandensein der T315I-Mutation. Ponatinib (vorher AP24534), seit dem 14.12.2012 in den USA für die CML-Zweitlinientherapie zugelassen, überwindet diese Mutation als einziges. Die auf ASH vorgestellten 12-Monats-Ergebnisse der PACE-Studie, an der 449 Patienten nach Versagen von Nilotinib und Dasatinib teilnahmen, machen Hoffnung: Obwohl bei vielen der CML-Patienten bereits zwei oder drei andere TKIs versagt hatten, erreichten 34% ein BCR-ABL unter 0,1% (MMR), und 9 von 10 Patienten hielten dieses Ansprechen auch dauerhaft. Das Gesamtüberleben nach 12 Monaten beträgt beeindruckende 94%. Von den 64 Patienten, die die multiresistente T315I-Mutation aufwiesen, erreichten 70% ein gutes Ansprechen im Knochenmark (gute zytogenetische Remission). Verschiedene ASH-Präsentationen und Poster beschrieben Ansprechraten und Nebenwirkungen von Ponatinib (ASH-Präsentationen #163 und #915, Poster #3763). Häufigste Nebenwirkungen von Ponatinib sind Hautausschlag und trockene Haut, Thrombozytenmangel, Bauchschmerzen, Erschöpfung, Kopfschmerzen, Gliederschmerzen, Übelkeit, manchmal auch Bluthochdruck und erhöhte Leberwerte. In der Zulassung hat die FDA auch einen Packungshinweis auf die Nebenwirkungen Thrombosen (bei 11% der Patienten, die fast alle Herzkreislauf-Vorerkrankungen hatten) und Leberbelastung (die bei 41% der Patienten auftrat) vorgeaschrieben.

Die entscheidenden ersten drei Monate nach Diagnose: Die 10%-Regel

Die Definition von Meilensteinen während der Krebstherapie ist für die ärztliche Entscheidungsfindung, den aktuellen Weg weiterzuverfolgen oder gegebenenfalls die therapeutische Richtung zu ändern, essentiell wichtig. Die Expertenempfehlungen des Europäischen Leukämienetzes ELN geben bereits seit 2009 die CML-Therapieziele im dritten, sechsten, zwölften und achtzehnten Monat nach Therapiebeginn vor.

Die deutsche CML-Studiengruppe brachte jedoch auf Basis der CML-Studie IV vor einem Jahr die These auf, ob nicht das Unterschreiten der 10%-BCR-ABL-Marke nach internationalem Standard nach dem dritten Monat bereits der entscheidende prognostische Meilenstein sein könnte. Dies entwickelte sich beim diesjährigen ASH zu einem dominanten Thema: ein halbes Dutzend Präsentationen widmete sich für die unterschiedlichen Therapien und auf Basis unterschiedlicher Studien wie die deutsche CML-IV dem Thema "frühes Ansprechen". In den ENESTnd- und DASISION-Erstlinienstudien schafften unter Nilotinib und Dasatinib rund 90% der Patienten den 10% BCR-ABL-Meilenstein, aber nur etwa zwei Drittel der Patienten unter Imatinib (ASH-Präsentation #167, Poster #1675).

Unisono stimmten die Experten überein: das Verfehlen der 10%-Marke nach drei Monaten geht mit einer deutlich geringeren Wahrscheinlichkeit, später ein gutes molekulares Ansprechen oder gar eine PCR-Negativität zu erreichen, einher. Die bisher für Imatinib geltende Beobachtung behält auch bei Dasatinib (ASH-Poster #1675) und Nilotinib (ASH-Poster #2797) als Erstlinientherapie Gültigkeit. Dr. Neelakantan wies zudem nach, dass ein 6-Monats-Meilenstein von 1% keinen weiteren Informationswert zu haben scheint - entscheidend bleibt die Unterschreitung von 10% nach Monat 3.

Die Nilotinib-Erstlinienstudie ENESTnd zeigt klar auf, dass nur jeder zehnte Nilotinib-Patient, aber jeder dritte Imatinib-Patient die 10%-Marke nach 3 Monaten verfehlt (ASH-Präsentation #167, Poster #1676).Die DASISION-Daten mit Dasatinib zeigen sehr Ähnliches (16% unter Dasatinib und 36% unter Imatinib). Bringt also der Therapiewechsel bei Verfehlen der 10%-Marke nach 3 Monaten noch das erhoffte Ansprechen? Im Rahmen der australischen TIDEL-Studie zeigte sich, dass selbst bei frühem, schnellem Wechsel von Imatinib zum stärkeren Medikament so manche Progression schon vor Ende des 3. Monats aufgetreten war. Einiges scheint demnach dafür zu sprechen, heute direkt nach Diagnose besser mit den Zweitgenerationsmedikamenten (Nilotinib oder Dasatinib) zu beginnen, um der CML gerade am Anfang möglichst wenig Chance zur Weiterentwicklung zu lassen und möglichst schnell den "sicheren Hafen" MMR (BCR-ABL <0,1%) zu erreichen. Wer erst mal dort ist, egal mit welchem der TKI-Medikamente, gilt weiter als "praktisch sicher".

Unklar ist aber noch, ob der schnelle Therapiewechsel bei "Reißen" der 10%-Leine nach Monat 3 auch wirklich Vorteile bringt. Es könnte ja sein, dass Patienten mit langsamem Ansprechen, unabhängig von der Wahl des Medikaments, eine "therapieunwilligere" CML haben, womit sich die schlechtere Prognose auch bei Wechsel des Medikaments nicht ändern würde. Aber diese These ist noch unbelegt.

Wobei man "schlechtere Prognose" auf hohem Niveau sehen muss: Das 4-Jahres-Überleben unter Nilotinib ist laut ENESTnd-Daten in der am Besten ansprechenden Gruppe (<1% BCR-ABL) nach 3 Monaten bei 97% und bei den Patienten mit "schlechter Prognose" (>10% BCR-ABL) nach 3 Monaten bei 87%. Das ist Statistik: Die Chancen, alt zu werden, sind statistisch in allen "Risikogruppen" bei CML in chronischer Phase vergleichsweise hoch.

Das Wettrennen zur "Tiefen Molekularen Remission"

Ein weiteres bestimmendes Thema des Kongresses war das der "tiefen molekularen Remission". Ausgelöst von den intensiven Diskussionen um die STOP-Studien, deren Zugangsvoraussetzung eine dauerhaft stabile Remission von mindestens MR4 (BCR-ABL <0,01%) oder MR4.5 (BCR-ABL <0,0032%) ist, beschäftigt man sich intensiv damit, wie man möglichst vielen Patienten diese Option eröffnet.

Auf ASH wurden hierzu von Dr. Tim Hughes die 2-Jahres-Ergebnisse der ENESTcmr-Studie vorgestellt (ASH-Präsentation #694). An ENESTcmr konnten Imatinib-Patienten teilnehmen, die nach mindestens 2 Jahren Imatinib-Therapie zwar eine komplette zytogenetische Remission, aber noch kein MR4.5 (bcr-abl-ratio <0,0032%) erreicht hatten. Die Hälfte der Studienteilnehmer wechselten auf Nilotinib 2x400mg, die anderen blieben weiter bei Imatinib. Nach zwei Jahren erreichten etwa doppelt so viele Nilotinib-Patienten wie Imatinib-Patienten eine tiefe molekulare Remission von mindestens MR4.5 (42,9% vs. 20,8% der Patienten). Zu beachten: Auch unter Imatinib erreichte immerhin jeder fünfte ein solch gutes Ansprechen. Für viele "Wechsler" zu Nilotinib wurde die höhere Wahrscheinlichkeit einer MR4 aber mit stärkeren Nebenwirkungen im ersten Jahr "erkauft": 29% der Nilotinib-Patienten berichteten über starke Nebenwirkungen, aber nur 2% der Imatinib-Patienten, weil sich deren Nebenwirkungen ja schon vor Jahren ausgeschlichen hatten. 9% der Nilotinib-Patienten mussten die Nilotinib-Therapie nebenwirkungsbedingt abbrechen. Nach 12 Monaten waren aber auch die Nilotinib-Nebenwirkungen weitgehend ausgeschlichen - im Jahr 2 hatten nur noch 4% der Nilotinib-Patienten schwere Nebenwirkungen.

Das könnte bedeuten: Ein Wechsel von Imatinib auf Nilotinib (oder Dasatinib) in guter, aber nicht perfekter Remission erhöht die Geschwindigkeit und Wahrscheinlichkeit des Erreichens einer tiefen molekularen Remission (MR4.5, BCR-ABL <0,0032%) z.B. als Zugangsvoraussetzung von STOP-Studien. Man erkauft dies aber mit dem Wechsel zu einem neuen Medikament und erstmals oft kräftigen, aber sich bald ausschleichenden Nebenwirkungen, die man unter Imatinib lange nicht (mehr) hatte - und man wechselt zu einem Medikament, das zweimal täglich mit insgesamt 6 Stunden Fastenzeiten genommen werden muss. Die Alternative ist: Mit Imatinib weitermachen und im Zeitverlauf auf eine tiefe Remission ohne Medikamentenwechsel setzen.

In "Ganggesprächen" variierten die Auffassungen der CML-Experten, was heutigen Imatinib-Patienten zu raten sei: Manche waren der Auffassung "je niedriger desto besser". Auch wenn die bisherige Annahme auch weiter gilt, dass Patienten mit einer stabilen MMR (BCR-ABL <0,1%) im "sicheren Hafen" sind und eine Weiterentwicklung der CML dann extrem unwahrscheinlich ist, seien sie mit noch niedrigerer PCR "noch etwas sicherer". Andere CML-Experten sehen dies aber kritisch und auch als Taktik, Patienten, die auf Imatinib bereits sehr gut angesprochen haben und die als "sicher" gelten, von einem bald als Generikum verfügbaren Medikament nun auf ein stärker wirksames, aber auch langfristig teures Medikament zu wechseln. Letzten Endes ist es aber wichtig, dass Studien wie ENESTcmr weitergeführt werden, um zu sehen, ob sich der Anteil der Patienten, die MR4.5 erreichen, unter Imatinib und Nilotinib langfristig angleicht oder ob der Wechsel einen Vorteil bringt. Und es hängt vom Patientenwunsch ab - will dieser möglichst bald absetzen und dafür einen Medikamentenwechsel in Kauf nehmen, oder lieber die aktuelle problemlos Medikation weiternehmen, dafür aber mit hoher Wahrscheinlichkeit noch viele Jahre? Es gibt nach aktuellem Kenntnisstand noch kein Richtig oder Falsch.

STOP oder nicht STOP?

Wann können CML-Patienten gefahrlos ihre Therapie absetzen, ohne sich in Gefahr zu bringen? Diese Frage beschäftigt die CML-Gemeinschaft seit Vorstellung der ersten Daten der französischen STIM-Studie (STop IMatinib) vor rund zwei Jahren. An der Studie nahmen 100 CML-Patienten unter Imatinib teil, bei denen in sechs aufeinanderfolgenden PCR-Untersuchungen über einen Zeitraum von zwei Jahren kein BCR-ABL mehr nachgewiesen werden konnte. Die Imatinib-Therapie wurde dann unter engmaschigen, monatlichen PCR-Kontrollen beendet. und bei einem Anstieg der BCR-ABL-Werte wieder begonnen.

Nach 36 Monaten behielten 39% aller Patienten die komplette Remission bei, aber 61% mussten die Therapie wieder aufnehmen. Die meisten Rückfälle erfolgten in sehr schnell, d.h. in den ersten 7 Monaten nach Stopp. Es gab aber auch späte Rückfälle in Monat 19, 20 und 22. Meist stiegen die Werte binnen weniger Tage sehr schnell an. Die australische STOP-Studie CML8, auf ASH von Dr. Susan Branford präsentiert, zeigte ähnliche Ergebnisse. Alle "Rückfall"-Patienten bei STIM und CML8 sprachen wieder auf die Therapie an.

Allerdings wiesen die Experten ganz deutlich darauf hin, dass ein Absetzen außerhalb von Studien keinesfalls empfohlen werde: Monatliche PCRs, beste PCR-Labore, eine sofortige Wiederaufnahme der Therapie nach Anstieg der Werte wären vielleicht der Garant dafür, dass die Patienten nicht in eine akzelerierte CML abrutschten. Die Risikofaktoren, wer "sicherer" absetzen kann, als andere, sind noch nicht klar - die STIM-Daten ergeben einen leichten Vorteil für das weibliche Geschlecht und wenn Patienten 3 Monate nach Therapiebeginn nach Diagnose bereits BCR-ABL-Werte von unter 1% hatten, d.h. "schnelle Responder" waren.

Nach allem Hype um den Therapiestopp fragt sich aber: Wie viele Patienten haben überhaupt Aussicht auf MR4.5 und danach einen erfolgreichen Therapiestopp ohne Rückfall?  Die bisherigen Absetzstudien in Frankreich, Japan, Korea und Australien zeigen Rückfallraten nach Absetzen zwischen 76% (Japan, Wiederbeginn nach einem einzigen positiven PCR-Ergebnis) und 39% (STIM2, Wiederbeginn erst nach Überschreiten der MMR). Allerdings erreicht ja nur ein Teil der CML-Patienten überhaupt die tiefe molekulare Remission, die ein Absetzen erlaubt. Dr. Susan Branford schätzt auf Basis der Daten aller Teilnehmer aller klinischen Studien an ihrem Institut, dass nach 8 Jahren Imatinib-Therapie nur etwa 14% aller Patienten erfolgreich absetzen könnten - 86% der Patienten wären also entweder nicht in entsprechender Remission oder der Absetzversuch würde fehlschlagen. In der ENESTnd-Studie erreichten nach 4 Jahren 40% der Nilotinib-Patienten eine MR4.5, in der DASISION-Studie 35% der Patienten nach 3 Jahren unter Dasatinib. Wenn man nun mutmaßt, dass diese Remission nach Erreichen und vor Absetzen weitere 2 Jahre lang gehalten werden sollte, und nach Absetzen etwa die Hälfte der Patienten die Remission hält, würde also in etwa nur jeder fünfte CML-Patient unter Dasatinib/Nilotinib-Erstlinientherapie erfolgreich stoppen können.

Ist Stopp also nur ein Thema für eine kleine Minderheit? Weil die stärkeren Medikamente Dasatinib und Nilotinib bei mehr CML-Patienten zu tiefem molekularen Ansprechen führen, könnte die Gruppe der Absetzkandidaten unter diesen ja größer sein. Dr. Delphine Rea aus Frankreich präsentierte auf dem ASH die Ergebnisse ihrer Zweitgenerations-TKI-Absetzstudie (ASH-Präsentation #916). Patienten mussten vor dieser Studie mindestens schon 3 Jahre mit einem TKI therapiert worden sein, zuletzt unter Dasatinib oder Nilotinib, und mindestens 24 Monate ohne PCR-Nachweis von bcr-abl gewesen sein. 39 Patienten nahmen an dieser kleinen Studie teil. Im ersten Jahr wurde monatlich, in zweiten alle 2-3 Monate eine sehr sensitive PCR durchgeführt. Anders als bei STIM wurde das Überschreiten von MMR (0,1% BCR-ABL) alleine, und nicht der Anstieg um eine Zehnerpotenz, als Kriterium für Therapieneubeginn gesetzt - also entspanntere Kriterien. 16 Patienten (41%) verloren das gute molekulare Ansprechen (MMR) und mussten wieder mit der Therapie beginnen. Die Rückfälle erfolgten meist sehr schnell (durchschnittlich nach 3 Monaten), einer aber nach 25 Monaten. Die Beobachtungszeit dieser Studie ist erst kurz (durchschnittlich 7 Monate nach Therapieneubeginn), daher lässt sich über das Wiederansprechen der Rückfälligen noch nichts Definitives sagen, aber 11 der 16 Patienten erreichten nach durchschnittlich 4 Monaten wieder PCR-Negativität, drei weitere mindestens MMR. Als Risikofaktor für einen Rückfall nach Absetzen wurde der frühere Wechsel von Imatinib auf Zweitgenerations-TKI wegen suboptimalem Ansprechen identifiziert.

Dass das Absetzen bisher nur für einen kleinen Teil der Patienten in Frage kommt bzw. zum Erfolg führen wird. In Ganggesprächen waren alle Experten, die ich sprach, unisono der Meinung, dass Absetzen nur im Rahmen von Studien erfolgen sollte und man mit Sorge sehe, dass manche Hämatologen diese Absetzversuche in Eigenregie durchführen. STOP-Studien werden in Deutschland für Patienten mit Imatinib, Dasatinib und Nilotinib voraussichtlich in den nächsten Monaten verfügbar sein. In Studien ist das Sicherheitsnetz (monatliche PCR-Kontrollen, qualitativ bestmögliche PCR-Labore, Bestätigung aller Voraussetzungen, schnelle Wiederaufnahme bei Fehlschlag, Lernen im Netzwerk) eng gespannt. Wer heute bereits in einer tiefen molekularen Remission ist, verpasst ja nichts bis zur Verfügbarkeit einer STOP-Studie - im Gegenteil, je länger die tiefe molekulare Remission unter Therapie schon war, desto höher die Chance, diese nach Absetzen auch beizubehalten.

Wollen CML-Patienten denn absetzen und wie wird das Risiko wahrgenommen? Ein Poster (#4274) präsentierte die Ergebnisse einer Befragung von 38 kanadischen CML-Patienten verschiedener Bildungsschichten im Zeitraum von Juni bis August 2012. Die Patienten waren seit mehr als 50 Monaten unter CML-Therapie - etwas mehr als die Hälfte unter Imatinib, der Rest unter Nilotinib und Dasatinib. Interessant war dabei, dass sich die Meinung je nach erwarteter Rückfallrate änderte - während Patienten in der Mehrheit zum Absetzen bereit waren, wenn ein Scheitern bei 20% der Patienten in Aussicht stand, wollte bei einer Rückfallrate von 60% die Mehrheit lieber die Therapie "eher fortsetzen".    

Interferon - Altlast oder das i-Tüpfelchen?

Die schon auf früheren ASH-Konferenzen vorgestellte französische SPIRIT-Studie (ASH-Abstract #168) zeigte, dass die Kombination von Imatinib mit Peg-Interferon ein schnelleres und tieferes molekulares Ansprechen als eine Imatinib-Monotherapie auslösen kann. Zusätzlich ist seit vielen Jahren bekannt, dass Interferon auch in niedriger Dosis einen Immuneffekt gegen die CML auslöst, der ggf. eine durch Tyrosinkinasehemmer stark reduzierte Restleukämie in Erhaltungstherapie unter Kontrolle halten kann.

Auf dem diesjährigen ASH wurden vom MD Anderson Krebszentrum die 30-Jahres-Daten ihrer seit Jahrzehnten in Erstlinie mit Interferon-Monotherapie behandelten CML-Patienten präsentiert (ASH-Präsentation #918). Nur ungefähr 30% der Patienten sind heute noch am Leben, und 80% dieser Patienten mussten wegen mangelndem Ansprechen auf Interferon-Monotherapie auf Tyrosinkinasehemmer oder Stammzelltransplantation wechseln. Interessant war aber an den 30-Jahres-Daten, dass etwa 6% der Patienten selbst nach Absetzen von Interferon in einer stabilen Remission ohne jegliche Therapie blieben, obwohl bei ihnen BCR-ABL teilweise noch deutlich messbar war. Die Autoren sprechen dies den dauerhaft immunaktiven Eigenschaften des Interferons gegen die CML zu.

Die französische Studiengruppe der SPIRIT-Studie präsentierte auf ASH frühe Daten einer einarmigen Studie, die das noch wirksamere Nilotinib mit Peg-Interferon kombiniert (ASH-Präsentation #166). Ziel der "NiloPeg"-Studie ist, die Verträglichkeit und das Ansprechen der Kombination näher zu untersuchen.  Hierzu erhielten die neu diagnostizierten CML-Patienten zuerst einen Monat Peg-Interferon alleine, und danach zusätzlich gemeinsam mit halber Interferon-Dosis 2x300mg Nilotinib. Gemessen wurden neben den Nebenwirkungen und dem Ansprechen auch die Lebensqualität und die in der Realität verabreichten Dosen. Im Monat 12 erreichten 17% aller Patienten mindestens MR4,5 (BCR-ABL <0,0032%), weitere 34% mindestens MR4 (<0,01%) und weitere 24% MMR - d.h. 3 von 4 Patienten waren nach 12 Monaten in sehr guter Remission. Die als stark berichteten Nebenwirkungen waren bei 2,5% der Patienten Anämie, 41% Thrombozytenmangel und 5% Blutarmut, diese Nebenwirkungen traten aber hauptsächlich in Monat 2 und 3 auf und verschwanden danach. Weiterhin gab es während der ersten drei Monate vereinzelt Auffälligkeiten im Leberstoffwechsel und Blutfettwerten, Bauchschmerzen und Depressionen. Eine französische Phase-III-Studie, die Nilotinib alleine gegen Nilotinib+PegInterferon vergleichen wird, befindet sich momentan in Vorbereitung. Die deutsche TIGER-Studie, die ebenfalls Nilotinib und Nilotinib-PegInterferon-Kombination einsetzt, nimmt heute bereits an mehreren deutschen Studienzentren Patienten auf.

Warum das vermutlich nicht mein letzter ASH-Besuch war

Wie immer war der diesjährige ASH wieder hochinteressant, vor allem wegen der Präsentationen, aber auch wegen der informellen Gespräche mit Experten vor und nach den Sitzungen. CML hat im Gegensatz zu vielen anderen Leukämien und Lymphomen das Privileg einer Auswahl hochwirksamer und gut verträglicher Therapien.

Es gibt auch langfristig wenig neue Bedenken über die Wirksamkeit und Sicherheit von Imatinib, Dasatinib und Nilotinib.

Heute mit CML diagnostizierte Patienten haben bei Behandlung durch einen CML-Experten eine nahezu normale Lebenserwartung (sind aber weiterhin in Lebensgefahr, wenn sie suboptimal behandelt werden oder die Medikamente nicht wie verschrieben nehmen). Langfristige Nebenwirkungen vor allem in Zusammenhang mit Zweiterkrankungen muss man jedoch beobachten, und dazu braucht es erfahrene CML-Experten. Bei Nilotinib wurde in diesem Jahr erstmals das Risiko zur arteriellen Verschlusskrankheit bei Patienten mit Gefäß-Risikofaktoren wie Fettleibigkeit, Rauchen, Bluthochdruck oder Diabetes dokumentiert, bei Dasatinib beobachtet man bei einem kleinen Teil der Patienten seit längerem schon unangenehme behandlungsbedürftige Flüssigkeitsansammlungen zwischen Lunge und Rippen (Pleuraergüsse), die auch nach Jahren nebenwirkungsarmer Therapie noch auftreten können. Abgesehen davon können auch leichte, nicht behandlungsbedürftige Nebenwirkungen im Alltag auf Dauer lästig werden.

Die STOP-Studien sind für die Patienten, die eine tiefe molekulare Remission erreichen, vielleicht eine attraktive Chance, die CML-Therapie samt allen Nebenwirkungen los zu werden. Diese Möglichkeit wird aber trotzdem einem großen Teil der CML-Patienten verschlossen bleiben, weil sie entweder keine dauerhaft stabile, tiefe molekulare Remission erreichen oder viele Jahre dorthin brauchen.

Mit Ponatinib und Bosutinib wird es 2013 voraussichtlich noch weitere zugelassene Medikamente geben, die z.B. bei T315I-Mutationen oder für Patienten mit Unverträglichkeit der bisherigen Therapien wichtige Optionen sein können. Nachdem über alle Therapien hinweg die Bedeutung der 10%-Regel nach drei Monaten Erstlinientherapie belegt wurde, werden auch die Expertenempfehlungen für einen "frühen, vorsorglichen Wechsel" statt einem Abwarten auf späteres besseres Ansprechen klarer.

Unsere Hoffnung ruht weiter auf der Erforschung, wie die restlichen CML-Stammzellen effektiv und nebenwirkungsarm zu beseitigen sind - ein Gebiet, das zwar intensiv beforscht wird, wovon auf dem diesjährigen ASH aber leider an Ergebnissen nur wenig sichtbar wurde.

Die Fortschritte des letzten Jahrzehnts bei CML in chronischer Phase waren immens und Verbesserungen sind auf solch hohem Niveau trotzdem wichtig, aber meist weniger spektakulär. Wie wichtig sie sind, spiegelt sich im fehlenden Fortschritt in der Therapie von CML in Blastenkrise wieder: die Aussichten für Patienten in Blastenkrise sind weiterhin dramatisch schlecht. Es muss daher alles dafür getan werden, dass CML-Patienten früh diagnostiziert und dann optimal behandelt werden, um niemals in die Gefahr des Abrutschens in Richtung Blastenkrise zu kommen.

Und natürlich wollen wir auf lange Sicht keine "Chronifizierung" der Krebserkrankung unter Dauertherapie, sondern eine Heilung aller CML-Patienten von ihren restlichen Krebsstammzellen.

Bis der Wunsch Realität wird, werde ich aber wohl noch einige Male zum ASH fahren müssen.

Jan Geissler, Leukämie-Online
Giora Sharf, Israelische CML-Patientenorganisation

13.12.2012

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Wolfi
ASH-Bericht
Lieber Jan,

herzlchen Dank für den informativen ASH-Bericht.
Gut, daß es dich gibt!

Viele Grüße
Wolfi

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